Leseprobe „Beim Psychiater“

»Oh, Isolde! Was verschafft mir die Ehre? Hat Igor wieder was angestellt?«

Dr. Wolfgang Liesegang, dem Vorsitzenden des Elternaktivs, schwant nichts Gutes. Der letzte Besuch der Klassenlehrerin seines Sohnes liegt Monate zurück.

Sie hat Glück, ihn noch in der Praxis anzutreffen, die Sprechstunde ist lange vorbei. Der Arzt führt sie durch das Wartezimmer. Es ist noch das gleiche, stellt sie fest, neu sind lediglich ein paar Bilder an der Wand, gezeichnete Arztwitze, gemalt von einem Karikaturisten, einem seiner Patienten. Sieht ein bisschen billig aus, denkt sie. Vor einem gerahmten, auf roten Karton aufgezogenen Zeitungsausschnitt bleibt er stehen, stolz, als habe er den Text selbst verfasst:

»In den psychiatrischen Anstalten der DDR saßen natürlich auch wirklich Verrückte. Sie hielten sich für Napoleon, Adenauer oder Mitterrand. Oder sogar für den Kaiser von China. Aber nicht einer von ihnen hielt sich für Ulbricht, Honecker oder Mielke. So verrückt waren sie nun auch wieder nicht.«

Isolde lächelt. Ein Mutausbruch, wie er jetzt allenthalben zu beobachten ist. Das hätte er mal früher aufhängen sollen, vor der Wende!

» Was führt dich zu mir?«

»Vielleicht das Naheliegende: psychische Probleme.«

Der Doktor runzelt die Stirn: »Psychische Probleme?«

Er klingt erstaunt, als sei seine Praxis dafür der falsche Ort. Was er meint: Isolde ist nicht die Frau, bei der er einen psychischen Knacks erwartet hätte.

»Mein Wunsch ist es, von dir einfach mal wie eine gewöhnliche Patientin behandelt zu werden«, erklärt sie. »Auf der berühmten Couch zu liegen und in die eigenen Abgründe zu tauchen, das stelle ich mir spannend vor.«

Sie glaubt nicht, dass er in der Lage ist, ihr auf den Grund der Seele zu blicken; im Ernstfall hat sie noch jedem Mann etwas vorflunkern können.

Liesegang vermutet, dass sie anderes im Sinn hat als ein Psycho-Spielchen. »Nur um das klarzustellen: Du bist nicht gekommen, weil du mit dem Ende der DDR nicht fertig wirst? Weil dich Ängste plagen, was die Zukunft betrifft?«, fragt er.

Sie muss nicht antworten, lächelnd schaut sie ihm in die braunen Augen: Sehe ich aus, als hätte ich Angst?

»Könnte ja sein, dass du dir was vorzuwerfen hast. Mitgemacht haben wir doch alle irgendwie, mehr oder weniger. Meist mit gutem Gewissen. Jedenfalls am Anfang …« Sie schließt die Augen. Fühlt sich nicht angesprochen.

Liesegang hat sich viel anhören müssen in letzter Zeit. Er weiß, wie er Brücken über Abgründe bauen kann: »Natürlich hast du keinem geschadet.«

Isolde schüttelt den Kopf: »Ich bin einfach nur neugierig, wie einer wie du mit schwierigen Fällen umgeht.«

»Du bist ein schwieriger Fall?«

Die sogenannte Couch ist eine Liege und so gut wie unbenutzt, ein Utensil, das zur Einrichtung gehört, obwohl es keiner braucht. Die Anamnese, die Isolde im Sinn hat, scheint ihn dennoch zu reizen. Aus einem Schrank kramt er ein schlecht gebügeltes, leidlich weißes Laken hervor, das er über die Beichtstatt breitet, sucht eine Weile nach einem Kissen und einer Nackenrolle. Man sieht, zu seinen täglichen Verrichtungen gehört diese Übung nicht. Schließlich bittet er Isolde mit ausladender, fast feierlicher Geste auf das Lager. Das gefällt ihr. Lockerheit mahnt er an, rät ihr, ein paar Blusenknöpfe zu öffnen und die Gürtelschlaufe zu lösen.

Isolde bezweifelt, dass weniger körperliche Einengung ihren Redefluss befördern werde, kommt aber seinem Wunsch gern nach. Sie ist bereit, sich dem Mystischen hinzugeben. Er sitzt am Kopfende hinter ihr, sie kann ihn nicht sehen, weiß nicht, ob er einen Schreibblock auf den Knien hält. Er riecht ein bisschen nach Schweiß, nicht unangenehm, wahrscheinlich unvermeidlich nach der langen Sprechstunde.

»Ich schlage vor, wir lassen den Kinderkram weg«, sagt er, »den Frust darüber, dass die kleine Schwester Mutters Liebling war, die Sehnsucht nach dem Vater, der im Krieg geblieben ist, auch den anderen pubertären Mumpitz. Also ohne Umschweife: Was bedrückt dich heute?«

»Eigentlich nichts.«

Die Stille, die eintritt, lässt sie vermuten, dass der Doktor mit ihrer Antwort nicht zufrieden ist. Schnell schiebt sie nach: »Höchstens mein Mann. Er ist im Moment in einer kritischen Verfassung.«

»Gut, darüber reden wir gleich. Erzähl mir, wie du ihn kennengelernt hast.«

Oha, Vorsicht! Warum will er das wissen?, fragt sie sich. Was hat das mit Martins heutigem Zustand zu tun?

Wie auch immer – sie lässt sich auf das Spiel ein, kramt in ihren Erinnerungen.

 

Er war mir auf dem Bahnhof in Leipzig aufgefallen. Ein kantiges, sehr männliches Gesicht, breite Schultern, stoppliges kurzes Haar, Bürste genannt, war damals Mode, ein sportlicher Typ, und vor allem ein angemessen großer Kerl, das kam nicht allzu häufig vor. Für mich musste ein Mann mindestens einsfünfundachtzig sein, damit ich mit hohen Absätzen nicht plötzlich einen an meiner Seite hatte, dem ich auf den Kopf spucken konnte.

Eine billige Reisetasche in der Hand, schlenderte er den Bahnsteig entlang, von einem Ende zum anderen und wieder zurück, musterte die lange Reihe der Wartenden. Ein Tiger auf der Jagd, musste ich denken. Er hatte mich bemerkt, ich spürte es, und es tat mir gut. Als sich unsere Blicke trafen, wich er schnell aus. Offenbar war er schüchtern, ich fand das sympathisch. Von den allzu selbstgewissen Kerlen hatte ich die Nase voll.

Als die Einfahrt des Zuges angekündigt wurde, stellte er seine Tasche ab, nur wenige Schritte von mir entfernt. Zufall? Ich schaute zu ihm hin, er wandte sich ab, fühlte sich wohl ertappt. Freundliche braune Augen hatte er. Er gefiel mir.

Nein, nicht schon wieder!, sagte ich mir. Gerade war ich ausgezogen. Mein Koffer, könnte er ihn inspizieren, würde ihn zu dem Schluss verleiten, ich sei ein liederliches Weib. Wild lag alles durcheinander, Cremedosen, Zahnbürsten, Flacons, Lippenstifte, planlos hineingeworfen, zerknittert die Blusen und Röcke, staubige Schuhe inmitten der Dessous. Besinnungslos hatte ich meine Sachen aus dem Schrank und den Schubläden gegriffen und in den Koffer geknüllt. Es war aus. Mein Freund und Kommilitone, Liebhaber und starker Arm in Stunden studentischer Verzagtheit, hatte sich als treuloses Schwein erwiesen.

Ich hatte eine Ahnung gehabt, als Frau fühlt man so etwas. Vierzehn Monate waren wir zusammen, hatten uns erst im letzten Studienjahr gefunden, galten aber bald als Traumpaar, Latsch und Bommel, wie man sagte, unzertrennlich. In der Tat habe ich in dieser Zeit allen Verlockungen widerstanden, standhaft wie nie zuvor. Freunde wetteten schon, was zuerst kommen würde, die Hochzeit oder das Kind.

Es kam etwas anderes. An der Hochschule abgeschirmt und stets unter meiner Kontrolle, warf ihn im Freiland die erste Sturmbö um. Die Anfechtung war rotblond und fett, unfassbar! Ich musste kein Wort sagen. Als ich in der Tür stand, klaubte sie ihre Sachen zusammen und verschwand.

Sie aus seiner Wohnung zu vertreiben war leicht, unmöglich hingegen, sie aus dem Kopf zu kriegen. Seine Entschuldigung, seine Erklärungsversuche erreichten mich nicht, ich hielt mir die Ohren zu. Mir war, als sei ich um ein Jahr meines Lebens betrogen worden. Streichen, das Kapitel, befahl ich mir, vergessen den Kerl! Ich verlangte Unmögliches, das wusste ich, und ärgerte mich, dass ich den Schalter nicht einfach umlegen konnte. Er war geblieben, dieser blöde Schmerz.

Und nun, verletzt auf der Flucht, lief mir dieser Mensch über den Weg! Sicherlich kein dominanter Pascha, so schien es. Ich drehte mich nach ihm um. Diesmal hielt er meinem Blick stand, gute zwei Sekunden, schätzte ich, mit ernstem Gesicht. Ich lächelte, aber nur innerlich. Abenteuerlust kitzelte mich. Einen Versuch wäre er wert, dachte ich. Mir fiel ein, was meine flotte Studienfreundin Jutta immer gesagt hatte, wenn eine ihrer Liebschaften in die Brüche gegangen war: Nicht Trübsal blasen! Gegen Männer helfen nur Männer!

Als der Zug in den Bahnhof rollte, raffte ich allen Mut zusammen, ging zu ihm hin und fragte, ob er mir vielleicht beim Einsteigen mit dem schweren Koffer behilflich sein könnte. Ich hatte so etwas noch nie gemacht, entsprechend verkrampft wird mein Lächeln ausgefallen sein. Ich erwartete nicht viel, nur ein bisschen Unterhaltung für die zwei Stunden bis Dresden. Mich von meinem Kummer abzulenken, dafür schien mir der Junge gut zu sein.

Der arme Kerl war vollkommen perplex und außerstande, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Er nickte nur, nahm meinen Koffer und folgte mir. Nachdem er mein Gepäck in die Ablage gewuchtet hatte, stand er einen Moment unschlüssig im Abteil, als wisse er nicht, ob er nun gehen sollte oder nicht. Ich deutete auf die Sitzbank und setzte mich ihm gegenüber. Er war noch unsicherer, als ich vermutet hatte. Vor Aufregung traten ihm Schweißperlen auf die Stirn. Rührend. Er schaute mich nicht an, sondern suchte die Gesichter der anderen Fahrgäste ab, wonach, konnte ich nur vermuten. Wahrscheinlich fürchtete er, sie würden seine prekäre Situation erkennen.

Um ihm aus seiner Verlegenheit zu helfen, spielte ich Normalität. Gemeinsam eingestiegen, gemeinsam Platz genommen, wir waren ein Paar, jedenfalls für die Mitreisenden. Also fragte ich ihn so gleichmütig, wie es mir möglich war:

»Wollen wir auf den Gang gehen, eine rauchen?«

Ergeben trottete er hinter mir her. Ich hätte mir die Zigarette auch drin anzünden können, zufällig waren wir in einem Raucherabteil gelandet, vielleicht hatte ich es unbewusst angesteuert.

»Müssen ja nicht alle hören, was wir reden«, sagte ich draußen und lächelte ihn an. So konnte er sich als Teil einer Verschwörung fühlen, deren Sinn ihm, aber auch mir noch verborgen war.

Das Angebot, eine mitzurauchen, lehnte er kopfschüttelnd ab, sein Gesicht ließ keinen Zweifel: Widerwärtig, die Qualmerei! Trotzdem nahm er mir, wie er es wahrscheinlich bei eleganten Herren im Film gesehen hatte, die Streichhölzer aus der Hand und gab mir Feuer. Ich nutzte die Gelegenheit und kam ihm ganz nahe, ergriff seine Hand, als müsste ich ihm helfen, das brennende Holz behutsam zum Ziel zu führen. Tatsächlich zitterte er ein wenig. Er hatte schöne Hände, registrierte ich, lange, schmale Finger.

Ihm wurde heiß, der Schweiß begann zu rinnen. Mit einem kurzen Ruck öffnete ich das Schiebefenster einen Spalt, damit er sein Gesicht in den Fahrtwind halten konnte.

»Studieren Sie in Leipzig?«, fragte ich.

»Nein, ich habe einen Schulfreund besucht.«

O verdammt!, dachte ich. Er hatte eine tiefe, dunkle Stimme, und ich war anfällig für diesen sonoren Sound.

»Gestern waren wir in der Kongresshalle zu einem Jazzkonzert. Rolf Kühn, Klarinette, falls Ihnen der Name was sagt.«

»Den kenne ich vom Jazzfestival in Dresden. Günter Hörig und die Dresdner Tanzsinfoniker, falls Ihnen die was sagen.«

»Schon mal gehört, ja.«

»Und wie hat’s Ihnen gefallen?«

»Sehr gut.« Mehr konnte er nicht sagen. »Ich war zum ersten Mal beim Jazz.«

»Sie sind Student, stimmt’s?«

»Ja, in Kürze drittes Studienjahr, Elektrotechnik an der TH Dresden.«

»Elektrotechnik? Das trifft sich gut, bei mir muss eine Glühbirne ausgewechselt werden. – Nein, Unsinn! Blöder Witz.«

Ich musste aufpassen. Das klang ja wie eine Einladung. Beherrsch dich, Isolde, er bekommt ein falsches Bild von dir! Für solche Scherze schien er nicht gemacht.

»Stammen Sie aus Dresden?«, fragte ich.

Er nickte.

»Und wohnen noch bei Ihren Eltern?«

Er nickte wieder. War ihm offensichtlich unangenehm.

Schnell eine Fangfrage hinterher: »Erwartet Sie jemand am Bahnhof?«

»Nee«, antwortete er brav.

Ein bisschen unbedarft, der Junge. Eingeschüchtert kam er mir vor. Waren meine Fragen zu aufdringlich? Ich musste ihn auflockern.

»Finden Sie die Siezerei nicht auch komisch? Ich schlage vor, wir sagen Du, einverstanden?« Ohne seine Antwort abzuwarten, stellte ich mich vor: »Ich heiße Isolde. Leider. Kann nichts dafür.«

»Schöner Name«, log er. »Ich bin Martin. Da stecken Max und Martha drin, so heißen meine Eltern.«

»Martin gefällt mir«, sagte ich und sah ihn groß an. Er sollte durchaus merken, dass meine Bemerkung nicht nur seinem Namen galt. Einen Martin hatte ich noch nicht in meiner Sammlung.

Er reagierte nicht. Begriffsstutzig oder verklemmt. Oder beides, ich war mir nicht sicher.

Sein Interesse lahmte, so schien es mir, das Gespräch drohte zu verebben. Folglich musste ich seinen Part übernehmen und mich mit Fragen bedrängen, die zu stellen er sich nicht traute.

»Du bist bestimmt neugierig, was ich so treibe, hab ich recht?«

Hatte er genickt? Egal, ich machte einfach weiter. »Mein Leben in Kurzfassung: Geboren und aufgewachsen in Wilthen, Oberlausitz, kennst du vielleicht, da wo die Goldkrone und der Edel gebrannt werden. Bis zum Abitur jeden Tag von Wilthen mit der Bahn nach Bautzen zur Oberschule, dann, weil mir nichts Besseres einfiel, Pädagogische Hochschule Potsdam, in diesem Sommer fertig geworden, noch vier Wochen, dann geht’s los, rate mal, wo? – In Dresden, komisch, was? Lehrerin für Biologie und Chemie, ’ne kleine Wohnung haben sie mir schon besorgt, bisschen primitiv, Hinterhof, halb in der Erde vergraben, Souterrain nennt sich das, klingt vornehmer. Aber ich will nicht meckern.«

Er hörte sich alles an, nicht uninteressiert, wie es schien, hakte aber nicht nach, ging auch mit keiner Frage dazwischen, nach meinen Freizeitinteressen zum Beispiel oder warum in meiner Erzählung kein Mann vorkam. So kühn war er nicht. Diskret, dieser Martin, grundsolide bis zur Langweiligkeit. Meine Neugier begann zu schwächeln.

Das änderte sich, als ich mich nach seinen Hobbys erkundigte. Er war zu träge im Kopf (oder zu ehrlich), um mich zu beeindrucken mit Musik, Theater, Kunst. Oder mir etwas Tolles vorzuflunkern, Tanzen vielleicht. Stattdessen war ihm nichts anderes eingefallen als die Wahrheit.

»Klettern in der Sächsischen Schweiz!«, raunte er mir zu, als verriete er mir ein streng gehütetes Geheimnis.

Na, danke! Kalte, graue Felsen bot er mir an, welch Lustgewinn! Mein Kommentar fiel entsprechend aus. »Oh toll, klettern!«, sagte ich. »Das würde ich auch gern!«

Ein unbedachter, dummer Spruch, die Wirkung verblüffend:

»Wie bitte? Hab ich richtig gehört?« Er lebte auf. Hatte die Ironie nicht verstanden. »Ein Mädchen, das klettern möchte, ist mir noch nie begegnet. Ich dachte immer, Klettern ist eine Sache für Männer. Aber warum nicht?!«

Fortan kam ich kaum noch zu Wort. Er war in seinem Eifer kaum zu bremsen, überhäufte mich mit Namen von Felsen, die für den Anfang gut geeignet wären, der eine leicht zu besteigen, der andere mit wunderbarer Aussicht, schwärmte von verschwiegenen Gipfeln in den Schrammsteinen, von reizvollen Wegen im Bielatal, auch im Rathener Gebiet …

Er hatte ja doch Feuer, der Mann. Mit einem Mal sah er mich mit anderen Augen an. Bis dahin hatte er, wie alle Männer, heimlich nach meinen Brüsten geschielt, das störte mich wenig, der Busen war meine schwache Stelle nicht, nun aber vermaß er mich ganz unverhohlen von oben bis unten und gab halblaut die Ergebnisse bekannt: gute Hebel, die Griffhöhe ordentlich, Gewicht im Notfall beherrschbar, Muskulatur vermutlich mäßig, aber ausbaufähig. Er prüfte mich auf meine Tauglichkeit am Fels! Scheute sich nicht, meine Oberarme zu packen, um dem Bizeps auf den Zahn zu fühlen, wie er sagte.

Es machte ihm offensichtlich Spaß, und, ehrlich gesagt, mir auch. Er wurde immer lockerer, fing an Witze zu machen, bald plauderten wir über dies und das, nicht nur über das Bergsteigen. Mensch Martin, staunte ich, du bist ja doch eine Option!

Mir war klar, ließe ich mich von ihm ins Kletterseil einbinden, hätte ich ihn an der Leine. Wollte ich das?

Der Zug näherte sich Dresden. Noch immer standen wir im Gang und quasselten, ohne Luft zu holen. Ich wusste, dass sich unsere Wege bald trennen würden und noch einiges zu bereden war. Denn ich hatte einen Plan gefasst, einen verwegenen Plan. Den musste ich an den Mann bringen, in aller Vorsicht, weil schwer abzusehen war, wie mein aufgedrehter Kletter-Martin reagieren würde.

Ich holte weit aus, erklärte ihm zuerst, dass ich heute nicht in Dresden-Neustadt aussteigen, sondern bis Bautzen durchfahren würde. Ich müsste meine Mutter besuchen, das hätte ich versprochen.

»So ein Problem kennst du nicht. Du kommst jeden Tag brav nach Hause zu Mutti. – Gefällt dir das eigentlich? Oder willst du nicht langsam mal ausziehen?«

»Wie denn? Als Dresdner hast du keinen Anspruch auf eine Studentenbude.«

»Du kannst ja behutsam anfangen, erst mal nur eine Nacht wegbleiben und sehen, wie Mama es verdaut.«

Verdattert starrte er mich an. Sicherlich hatte er mich falsch verstanden, ich konnte aber nicht viel erklären, es ging alles sehr schnell, der Zug war schon kurz vor dem Bahnhof, höchste Zeit für mich, nun ebenfalls in die Zielgerade einzubiegen.

»Ich hätte da eine Idee«, sagte ich. »Du könntest mir meinen schweren Koffer abnehmen und zu mir in die Wohnung tragen, für den Abstecher zu meiner Mutter habe ich alles Nötige in der Reisetasche. – Alaunstraße, kennst du vielleicht, keine Viertelstunde zu Fuß. Würdest du das tun für mich?«

»Aber meine Eltern …« Es ging ihm offensichtlich zu schnell. Der Zug bremste, die Leute drängten auf den Gang.

»Pass auf«, sagte ich, »hier der Hausschlüssel – klar? Im Innenhof das linke Quergebäude. Links, klar? Souterrain, da gehen vier Stufen hinunter. Das ist der Wohnungsschlüssel. Du kannst dort schlafen. Im Kühlschrank findest du genug. Spätestens morgen Mittag bin ich zurück und befreie dich. Ich lade dich zum Essen ein, danach kriegst du den Laufpass zu Mutti.«

Zu überrascht, um Widerstand zu leisten, zerrte er meinen Koffer aus dem Gepäcknetz, vergaß fast seine eigene Tasche. Ich schob ihn, die Hände auf seinen knochigen Hüften, vor mir her zur Tür. Er war der Letzte, der ausstieg. Zuvor zog ich ihn an mich, umarmte ihn fest, ein angenehmes Gefühl, warm, er hatte nur ein dünnes Hemd, ich mein Sommerkleidchen an. Dann löste ich mich und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Er lächelte. Hatte sich also durchgerungen. »Danke«, flüsterte ich. »Ich freue mich. Das Bett ist frisch bezogen. Unterm Kopfkissen findest du mein Negligé, leg’s beiseite, es passt dir sowieso nicht.«

Martin stellte das Gepäck auf den Bahnsteig und winkte, bis mein Zug hinter einer Kurve verschwand. Ich sah noch, wie er sich mit den Fingern, den schönen langen Fingern, über die Lippen strich, offenbar dem Kuss nachspürte. Gewiss, ich hatte ihn überrumpelt, war aber sicher, er würde es nicht bereuen. Ein lieber Kerl, gut zu führen, dachte ich.

 

»Genug für heute! Erste Sitzung beendet«, sagt der Doktor.

Was soll das? Isolde ist ernüchtert. Das nannte sich Psychologie? Wozu sollte so etwas gut sein? Von ihm war gar nichts gekommen, keine Frage, auch keine Berührung, nicht mal seine Hand auf ihrem Arm oder ein sanftes Streicheln über Stirn und Wangen. Sie hatte sich mit anderen Erwartungen auf die Couch gelegt. Jetzt ahnt sie: Es war falsch, die Patientin zu spielen. Bestimmt hat ihm sein Berufsethos dazwischengefunkt, jener ärztliche Anstand, der bei ihrem ersten Besuch so vollkommen deaktiviert gewesen ist.

Vor einem Jahr war sie allerdings auch nicht als Psycho-Patientin, sondern als kernige Klassenlehrerin der 11 B 1 erschienen, die mit Vater Liesegang, dem Vorsitzenden des Elternaktivs, ein Hühnchen zu rupfen hatte. Es war sein Wunsch gewesen, die Probleme seines Sohnes nicht in großer Runde mit anderen Eltern, sondern in diskreter Sitzung in seiner Praxis zu erörtern.

Sie hatte vor seinem Schreibtisch gesessen, er dahinter. Isolde war ohne Umschweife zur Sache gekommen, hatte die Klagen der Staatsbürgerkunde-Lehrerin wiederholt, dass sein Sohn Igor immer öfter den Unterricht störe und die Kollegin zu provozieren versuche, zum Beispiel mit der Volkskammerwahl, dass er Fragen stelle, die ihren Ursprung eindeutig in Hetztiraden westlicher Radiosender hätten. Sogar das Wort Wahlfälschung habe er nachgeplappert.

Der Doktor reagierte nicht mit hilflosen Erklärungen, er sagte gar nichts, kam um den Tisch herum und baute sich vor ihr auf, ganz lässig, den Hintern an die Schreibtischplatte gelehnt. Isolde musste zu ihm aufblicken und sah erstaunt, wie ungeniert er sie taxierte, ihr in den Ausschnitt und auf die Schenkel starrte, die sich unter dem dünnen Kleid abzeichneten. Sie war verwirrt und geschmeichelt zugleich, es passierte nicht oft, dass eine fast fünfzigjährige, ein wenig rundliche Frau von Männern derart interessiert gemustert wurde. Er war verwitwet, das wusste sie.

Isolde senkte den Blick und erschrak: Vor ihrer Nase war Bewegung! Entgeistert schaute sie wieder nach oben. Sein Nicken ließ keinen Zweifel. Wie unter magischem Zwang knöpfte sie seine Hose auf …

Sie kam erst auf dem Schreibtisch wieder zu sich, als er von ihr abließ. Nicht dass ihr die schnelle Nummer besonderen Spaß gemacht hätte, aber wie er so ganz ohne Worte, ohne jedes Balztänzchen, so selbstverständlich und geschäftsmäßig … So ein freches Schwein aber auch! Es hatte ihr imponiert.

In der Schule hatte sie ihrer Kollegin versichert, Igors Vater, der als Witwer offensichtlich überlastet sei, wolle sich künftig mehr kümmern und alles tun, um seinen Sohn zu einem ordentlichen Staatsbürger zu erziehen, vor allem werde er darauf achten, dass keine Westsender mehr gehört werden.

Geb’s Gott, hatte die Stabü-Lehrerin geantwortet.