Leseprobe „Kleckerers Leid“

Kleckerers Leid
oder
Die Spaghetti-Connection und wir

Ein spitzer Schrei zerreißt die Luft. Meine Frau! So schnell es geht, quäle ich mich aus dem Lehnstuhl. Ich hatte es mir schon gedacht: Sie hat eine Hose von mir in der Hand und ringt um Fassung. Mit fragendem Blick zeigt sie auf einen dunkelbraunen Fleck.
Jetzt bloß keine Diskussionen!, denke ich. Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung, woher der Fleck stammt. Betont gleichmütig trotte ich zu meinem Sessel zurück, nicht ohne Charlotte zu bedeuten, dass es an der Zeit ist, sich um das Essen zu kümmern.

Selbstredend kenne ich den Fleck, und ich habe auch eine Erklärung dafür. Vor gut einer Woche muss beim Naschen ein Stück Schokolade auf dem Küchenstuhl gelandet sein, das ich dann mit meiner rückwärtigen Restwärme in den Hosenboden einmassiert habe. Interessant ist lediglich, warum das meiner Frau so lange verborgen blieb. Angeblich schauen doch Frauen den Männern beim Taxieren besonders auf die Hände und auf den Arsch. Die Meinige guckt da scheinbar nicht mehr hin; Frivoles im Zusammenhang mit ihrem Ehemann – das ergibt für Charlotte keinen Sinn.
Hingegen starrt sie mir neuerdings ständig in den Schritt. Als gäbe es da was zu sehen. Es ist hochgradig unangenehm. Der Grund: Charlotte hat offenbar Freude daran, mich bloßzustellen. Nicht selten beschließt sie die Musterung mit dem Ausruf: »O nein, was hast du denn da schon wieder?!« Blamabel. Vor aller Ohren bläst sie auf, was bei distinguierten Leuten höflich übersehen wird. Bei uns dagegen erörtert die ganze Gemeinde, womit sich »unser Klecker-Opa heute wieder besudelt« hat.
Meistens wird die Sache noch verschlimmert, indem sie scheinbar Trost spendet: Mit den Jahren werde man eben wackliger, habe seine Motorik nicht mehr unter Kontrolle. Tattrigkeit sei normal im Alter, Kleckern die logische Folge.
Wenn ich das schon höre! Es gibt bei mir keine Alterserscheinungen. Solange ich davon nichts merke, ist das kein Thema. Und ich merke nix!
Das bestätigt mir sogar meine Frau. »Langsam merkst du gar nichts mehr«, sagt sie jetzt öfter. Sie liest alles, was ihr über Demenz und andere Ausfallerscheinungen unter die Augen kommt.
An jenem Sonntag, als uns zum Ende der Sommerzeit angeblich eine Stunde geschenkt wurde, mit der ich nichts anzufangen wusste, fiel mir nichts Besseres ein, als meine Frau im Bett mit einem Frühstückstablett zu überraschen. Ein voller Erfolg: Durch eine unglückliche Bewegung − von wem, ist bis heute umstritten − kam nicht Charlotte, sondern das Kopfkissen in den Genuss des heißen Kaffees. Aber statt in einem klärenden Gespräch die Ursache zu ermitteln, ging es gleich wieder gegen mich, und zwar prinzipiell: Ich müsse endlich mein Alter akzeptieren, und ob mir nicht aufgefallen sei, dass mir so was in letzter Zeit ständig passiere. (Das stimmt nicht! Mindestens vierzig Jahre sind vergangen, seitdem ich ihr das letzte Mal das Frühstück ans Bett gebracht habe. Nebenbei: Es soll auch nie wieder vorkommen.)
Charlotte schiebt die zunehmenden Unfälle beim Essen auf meine Hinfälligkeit, ohne die weltpolitischen Zusammenhänge auch nur in Erwägung zu ziehen.
Hinter den Kleckerattacken, davon bin ich überzeugt, stecken andere. Allein meine Schuld kann es nicht sein. Mich plagen weder Schüttellähmung noch Händezittern, und trotzdem stürzt sich dauernd eine Kartoffel von der Gabel in die Soße, regelmäßig tropft es von Bandnudel und Suppenlöffel, spritzt eine Tomate beim Reinbeißen in der Gegend rum. Das war doch früher nicht so!
Schon lange wählen wir Restaurants nicht mehr nach gastronomischer Qualität aus. Gut ist eine Kneipe, wenn die Tischdecken so groß sind, dass ich mir einen Zipfel in den Hosenbund stecken kann – als Undercover-Lätzchen.
Auch wenn das Wort einen Beigeschmack von Kirche hat: Ich sehne mich nach dem Unbefleckten. Es geht mir weiß Gott nicht um die Empfängnis, die uns – wie ich mich erinnere – nie so ganz unbefleckt gelungen ist. Damals wurden bei uns viel mehr Laken gewaschen als Hosen. Irgendwann hat sich dieses Verhältnis umgekehrt. Nach den Schuldigen suche ich noch.
Irgendwie habe ich die Italiener im Verdacht. Erst schicken sie ihre Spaghetti in die Welt, und dann gucken sie schadenfroh zu, was passiert. Bei mir stehen die Spaghetti so weit vorn in der Statistik der Kleckerattentäter, dass sich das Wort Verschwörung geradezu aufdrängt.
Über die Gründe kann ich nur spekulieren. Am ehesten kommt man der Sache auf die Spur, wenn man versucht, sich in so einen betont maskulinen Spaghetto hineinzuversetzen. Da kommt ein selbstherrlicher Macho nach Deutschland, ein bisschen dünn vielleicht, aber – was jeden Italiener stolz macht – lang und hart! Hier gerät die erfolgsverwöhnte Nudel in die Hände einer deutschen Hausfrau. Und was macht die mit dem Spaghetto? Sie bricht ihn, schmeißt ihn in heißes Wasser und kocht ihn pappig!
Kein Wunder, dass Spaghetti Rachepläne schmieden und sich mit allen verbünden, die mit ihnen auf dem Teller landen. »Wir sind lang, wir hängen locker von der Gabel, da könnt ihr toll schaukeln«, versprechen sie dem Ketchup, den Ölen und Soßen – und dann lassen sie sie eiskalt (bzw. brühwarm) abtropfen! Gezielt auf Hemd und Hose.
Nicht immer sind es die Spaghetti. Aber Italien hat meist die Finger im Spiel. Vor Kurzem haben wir dort eine Woche Urlaub gemacht. Am dritten Tag geschah etwas Mysteriöses: Meine Frau gab drei Hosen in die Reinigung, obwohl ich nur zwei eingepackt hatte!
Charlotte, von mir zur Rede gestellt, nahm die Sache locker. »Darüber wunderst du dich?«, fragte sie mit einem hinterhältigen Grinsen. »Denk doch mal nach! Ich nehme jetzt zur Sicherheit immer paar Hosen mehr mit. Und ist es nicht gut so?«
Es war tatsächlich schon im Flugzeug losgegangen. Die Stewardess hatte uns ein langweiliges Spanisches Omelett als »kulinarisches Feuerwerk« für acht-fünfzig angepriesen. Mist, verdammter! Ich hätte es wissen müssen: Je eingeklemmter man sitzt, desto freier kann sich die ölgetränkte Eierpampe bewegen …
Heimtückische Anschläge trafen mich dann auch im Hotel. Noch am Begrüßungsabend entschärften Oliven und ein Salatblatt Hose Nummer zwei, am Tag darauf gaben Tomatenscheiben in Öl der dritten den Rest.
Leider kann ich meine Reflexe nicht abschalten. Sobald mir was runterfällt, presse ich instinktiv die Schenkel zusammen, damit zum Beispiel das Salatblatt nicht auf dem harten Boden zerschellt – und prompt zeichnet sich der Fleck schön symmetrisch auf beiden Hosenbeinen ab.
Als meine Frau, schon leicht in Panik, die Schmuckstücke auf den Hoteltresen knallte und um Reinigung bat, lächelte der Zerberus süffisant und sagte: »O dio mio! Insalata mista!« Das heißt, er wusste Bescheid! Es gab Connections bis runter in die Küche! Die wollten den Tedesco aus Berlin fertigmachen!
Die Absicht war leicht zu durchschauen. Als Urlauber auf fremdem Boden stehst du ja mit deiner Person quasi für Deutschland. Und wenn es den Itakern gelingt, aus meinem individuellen Missgeschick einen Nationalcharakter abzuleiten und es plötzlich weltweit heißt: Die Deutschen kleckern! – dann gute Nacht, deutsche Exportwirtschaft! So was wird nämlich ganz schnell auf deutsche Produkte übertragen, dann kleckern auch die deutschen Kondome, die deutschen Kaffeemaschinen, die deutschen Panzer. Schon heute ist die italienische Liga weitgehend frei von deutschen Fußballern. Irgendwann fahren auf italienischen Straßen keine deutschen Autos mehr, und am Ende kleckert sogar die Bundeskanzlerin …
Kürzlich habe ich versucht, meine Frau über die politischen Hintergründe der Kleckerverschwörung aufzuklären. Weit bin ich nicht gekommen. O Gott, stöhnte sie und schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen, das habe sie immer befürchtet: dass ich eines Tages im Kopf nicht mehr ganz richtig sein würde. Sie müsse schleunigst die Pflegestufe 3 für mich beantragen. Und überhaupt – wie ich wieder aussähe: die Strickjacke schief zugeknöpft! Wie ein verwirrter Alter!
So sind die Frauen: praktisch und handfest bei einfachen Verrichtungen, sogar wasch- und spülmaschinentauglich, aber leider etwas schlicht im Denken. Sobald es geistig anspruchsvoller wird, kommen sie nicht mehr mit.

»Schatz!«, ruft meine Frau aus dem Küchennebel. (Um Missverständnissen vorzubeugen: Charlotte denkt sich nichts dabei, das Wort »Schatz« benutzt sie seit 45 Jahren gewohnheitsmäßig wie einen alten Kochlöffel.) »Schatz, zieh dich bitte um, wir wollen essen!«
Ich muss mich beeilen, sonst gibt’s Ärger. Flugs schlüpfe ich in meinen gummierten Ganzkörper-Speiseoverall. Dass der überall bekleckert ist, stört sie komischerweise nicht.