Die Leute drehen sich nach ihm um. Sollen sie wohl auch, sonst hätte er sich nicht so auffällig angezogen. Hose und Schuhe aus weißem Leinen, das Hemd im maritimen Kolorit blau-weiß gestreift, um den Hals ein knallrotes Piratentuch. Markant vor allem der breitkrempige, helle Strohhut, der seinem zerfurchten Gesicht Schatten verschafft.
Wolfgang Wolter kennt ihn, hat ihn oft in der Nähe der Seebrücke gesehen, wenn er mit seinem Eis am Stiel zwischen den Strandkörben unterwegs war. Dort passt er hin: hockt auf einem klapprigen Stühlchen vor der Staffelei und kleckst seine Farben auf die Leinwand, ein Strandmaler, wie er im Buche steht.
Aber was sucht er hier? Es wirkt komisch, wie er sich in seinem Aufzug in die Schlange einreiht. Der Kiosk bietet Brötchen mit Fisch, Wurst und Käse an.
Ein Rostocker Hafenbräu in der einen, den Pappteller mit der Bockwurst in der anderen Hand, steuert er auf Wolters Stehtischchen zu. »Darf ich? So voll ist es hier sonst nie, kein Tisch mehr frei.«
Er hat das Gleiche bestellt wie sein Gegenüber, nur dass Wolter Wurst und Brötchen in doppelter Ausfertigung vor sich hat. Er ist ja auch zwanzig Zentimeter größer, mindestens.
»Bist du nicht der Hühnerbrater? Dir schmecken wohl deine Broiler nicht mehr? Deshalb die gute, alte Bockwurst.«
»Unsinn. Aber hin und wieder muss eine Abwechslung her.«
»Du stammst doch nicht von hier. Woher kommst’n?«
»Aus der Uckermark.«
»Hast’n dort gemacht?«
Neugierig ist er gar nicht. Trotzdem gibt Wolter Auskunft: »War bei der Melioration.«
»Und jetzt haste bei einem Grillkonzern angeheuert.«
»Ist mein eigener Wagen.«
»Donnerwetter.«
»Hab noch ’nen zweiten.« Er könnte sich ohrfeigen. Was muss er sich vor ihm brüsten? Ist noch nicht mal abbezahlt, der zweite.
»Oh, dann bist du ja ein richtiger Unternehmer. Mit Angestellten. Ein Ausbeuter.«
»Quatsch.«
»Spannend, das interessiert mich, aber ich muss leider los, noch ein bisschen malen. Tut mir leid, vielleicht können wir ein andermal reden, ich hab nämlich eine Schwäche für Jungunternehmer. Wie heißt’n eigentlich?«
»Wolf.«
»Ich bin Paul. Pinsel-Paul sagen die meisten. Komm doch mal vorbei, du findest mich immer an der Seebrücke.«
Da kannst du lange warten, denkt Wolter.
Am frühen Abend trottet er dennoch zum Strand. Ihm ist etwas eingefallen. Er hat schon Vera angerufen, sie war gleich Feuer und Flamme, hat ihn beglückwünscht zu seiner Idee. Das kommt nicht jeden Tag vor.
Schon von Weitem entdeckt er die Menschentraube. Dutzende Urlauber schauen dem Maler über die Schulter. Beim Näherkommen bemerkt er: Sie hängen ihm vor allem am Mund. Unablässig quasselt er vor sich hin, meditiert über unbeständiges Geld und − im Gegensatz dazu − über krisenfeste Kunst. Die habe er zu bieten. Er sei offen für alle Wünsche, sagt er, Motiv, Farbgebung, Größe des Bildes − alles verhandelbar.
Das gefällt Wolter, eine seiner Fragen ist damit schon beantwortet.
»Ich kann Sie in das Gemälde mit den hohen Wellen reinmalen«, sagt er und zeigt auf ein paar Fotos von Musterbildern, die er auf einer Decke ausgelegt hat. »Gut macht sich auch der frühe Morgen oder der Abend am Meer. Wenn ich Sie vor die Sonne stelle, bekommen Sie eine Aura wie Jesus bei der Himmelfahrt.«
Einige schmunzeln. Offensichtlich fühlen sich die Neugierigen mehr von seinen lockeren Sprüchen angezogen als von seiner Pinselführung. Als Wolter herantritt, gibt Paul, ohne von der Leinwand aufzublicken, eine kleine Vorstellung: »Oh, der Himmel verdunkelt sich, eine riesige Wolke schiebt sich vor die Sonne. Mehr Licht, bitte, mehr Licht!«
Was für ein Theater! Er produziert sich vor dem Publikum. Trotzdem tritt Wolter beiseite, geht ihm aus der Sonne. Der Maler erkennt ihn, nickt ihm zu, soll wohl heißen, bin gleich fertig und einem Bier nicht abgeneigt.
Vor ihm posiert eine füllige Urlauberin in knielangen Shorts, lässt sich in eins der vorgefertigten Bilder »reinmalen«. Sie sonnt sich in Pauls zweifelhaften Komplimenten.
Sein Lob ist vor allem für die Ohren der Umstehenden gedacht: »Sie machen es völlig richtig, Madame! Wenn eine Inflation heraufzieht, muss man sein Geld in Sicherheit bringen, Wertsachen kaufen, was Beständiges. Bei mir kriegen Sie ein echtes Ölgemälde für siebzig Mark! Eine Geldanlage erster Güte! Haben Sie doch bestimmt gehört, welche Unsummen für Gemälde geboten werden. Die werden von Jahr zu Jahr wertvoller. Je töter der Künstler, desto teurer. Wenn ich in die Grube fahre, meine Dame, machen Sie den großen Reibach.«
Die Umstehenden amüsieren sich. Wolter staunt, wie er das hinkriegt: malen und quatschen zugleich. Sein Mundwerk steht nicht still.
»Wenn Sie wüssten, wie man mich schon genannt hat! Ostsee-Gauguin! Der Breughel von den Dünen! Ja, es gibt eben Leute, die was von Kunst verstehen. Nur einmal musste ich Widerspruch anmelden. Da sagte einer, ich wäre ein vorpommerscher Picasso für Arme. Für Arme! Nee, für die Schlauen!, sage ich immer. Große Kunst für billiges Geld, hab ich Ihnen ja erklärt. Außerdem Picasso! Meine Kunden wollen doch nicht, dass sie kubistisch verfratzt werden, das Gesicht entstellt, ein Auge irgendwo im Himmel, der Körper zerhackt in eckige Stücke.«
Er wendet sich wieder seiner Kundin zu: »Sie wollen schön aussehen auf dem Bild, stimmt’s, Verehrteste? Wie im richtigen Leben.«
Wolter fällt auf, dass er die Frau keineswegs groß in den Vordergrund des Bildes, sondern weit nach hinten gerückt hat, wo sie kaum zu erkennen ist. Anscheinend ist Porträtähnlichkeit nicht Pauls Stärke. Ein Gesicht zu zeichnen, das dem Original nahekommt, gelingt ihm wohl selten. Meist versucht er es erst gar nicht, mit Vorliebe malt er die Leute von hinten. Man kann es an den ausgestellten Bildern sehen. Um seine zahlenden Kunden zufriedenzustellen, unterstützt er die Wiedererkennung durch schwungvoll hingeworfene Titel: »Sonnenuntergang am Meer mit Gerda und Günter« oder »Klaus-Dieter in Betrachtung der Brandung«.
»Sie können sich auch obenrum freimachen, meine Liebe«, sagt er, »dann male ich Sie als Bathseba an der Seebrücke. Oder nackig: als schlummernde Venus, untenrum rasiert natürlich, wie das klassische Vorbild. – Nein? – Gut, wird’s eben eine Madonna ohne Kind. Ist was fürs Schlafzimmer. Hängen Sie’s übers Ehebett! Ein heiliger Akt, kann man sich etwas Schöneres vorstellen? − Entschuldigung, wegen des Titels muss ich noch mal nachfragen: Wie war gleich Ihr Vorname? – Mareike, wunderbar, wäre ich nicht drauf gekommen. Ich hätte auf Mona oder Lisa getippt.«
Er taucht den Pinsel in ein Glas, klappt die Palette zu. »Fertig«, sagt er, »jetzt nur noch ein bisschen Schreibarbeit.« Wie ein Schulkind stottert er sich durch die Silben, die er auf den unteren Rand des Bildes kritzelt: »Ma-rei-ke bei auf-lan-di-gem Wind. So. Und nun der Künstler: Pau-lo Pik-As-so pi-xit.«
Die stramme Mareike versteht so wenig wie andere, was er brabbelt. Verklärten Blickes schaut sie auf ihr Ebenbild, zahlt die geforderte Summe und zieht beglückt von dannen. »Vorsicht, es ist noch frisch!«, ruft Pinsel-Paul ihr hinterher.
Als sie über die Düne Richtung Bier gehen, erklärt er Wolter, was es mit seiner Signatur auf sich hat: »Ich zeichne meine Bilder nie mit meinem Namen, nur der Paul ist immer dabei, manchmal auch als Pablo, Pawel oder Paolo, dahinter kommt der verdrehte Name eines berühmten Malers. Wie vorhin: Pik-Asso pixit.«
»Pixit?«
»Hat es gemalt. Ist lateinisch.«
»Du hast Malerei studiert?«
»Studiert wäre zu viel gesagt. Ich habe von einem studierten Maler gelernt. Der hat unseren Mal- und Zeichenzirkel im Betrieb geleitet, damals, als ich noch einen anständigen Beruf hatte.«
»Was hast’n gearbeitet?«
»Werkzeugmacher.«
Pinsel-Paul schlägt den »Dünenkaten« vor, aber Wolter hat nur eine halbe Stunde Zeit. Vera hat ihn gebeten, nicht zu spät zu kommen, Lars, der Kleine, kränkelt. Also landen sie wieder am Kiosk. Diesmal sind etliche Tische frei. Wolter spendiert ein Bier, schließlich will er was von ihm.
»Und nach der Wende war Schluss mit Werkzeuge machen?«
»Schon viel früher. Ich galt als entwicklungsfähig, ein Kader aus der Arbeiterklasse. Sie haben mich auf die Bezirksparteischule geschickt.«
»Ja, und?«
»Danach habe ich niemals mehr ein Werkstück bearbeitet. Sie haben mich in die Kreisleitung delegiert, Widerstand zwecklos, Karriere unvermeidlich. Zuletzt war ich Sekretär für Wirtschaft, musste mich um alle möglichen Planzahlen und den sozialistischen Wettbewerb kümmern.«
»Ach du Scheiße.«
»Kannst du laut sagen.«
Wolter spürt Trockenheit in der Kehle. Er holt die nächsten zwei Flaschen. Mit einem Bonzen Bier zu trinken, hätte er sich früher nie vorstellen können. SED-Funktionäre, die lebten unendlich weit weg von seiner Welt. Aber Paul ist kein Unberührbarer mehr, und er, Wolter, ist nicht mehr der Außenseiter, der selbständige Rasentrimmer am Rande der Legalität. Der Zufall hat zwei Kerle zusammengewürfelt, die unterschiedlicher kaum sein können: einen jungen auf dem aufsteigenden Ast, das will er jedenfalls hoffen, und einen alten, der auf dem Boden gelandet ist, Karriereast abgebrochen. Ein seltsames Paar.
»Und nach der Wende wolltest du nicht wieder als Werkzeugmacher arbeiten?«
»Wo denkst du hin! Mit dieser Vergangenheit? Außerdem: Welcher Betrieb hat denn noch eingestellt? Die mussten Leute loswerden.«
»Hart für dich.«
»Nee, mein Lieber: logisch. Die sogenannte Diktatur hat mich nach oben gehievt, und die sogenannte Demokratie schickt mich wieder zurück ins gesellschaftliche Souterrain. Ich darf mich nicht beklagen, habe es nicht anders erwartet. In früheren Zeiten ist es den Besiegten übler ergangen.« Mit einer Geste, der flachen Hand vor dem Hals, deutet er es an.
»Bist du verheiratet?«
»Ich war es. Meine Frau ist gleich nach der Wende abgehauen. Mit einem Verlierer wie mir war kein Staat mehr zu machen.«
»Hatte sie noch Arbeit?«
»Ja, klar. Sie war Buchhalterin und hat nicht mir, sondern ihrem Chef die Treue gehalten. Er hat sich damals selbständig gemacht. Inzwischen leben sie zusammen. Sie ist dem Abstieg entkommen.«
Wolter gefällt, dass er nicht jammert, offenbar nie gejammert hat. Statt sich in die Schlange beim Arbeitsamt zu stellen, ist er mit Sack und Pack nach Banswiek gezogen, in seine Laube. Zum Glück, erzählt er, begann gerade die wärmere Jahreszeit. Im Garten, der ihm nach der Trennung zugefallen ist. Er besann sich auf sein altes Hobby, kaufte die nötigen Utensilien und begann zu malen. Versuchte sich zuerst an gärtnerisch geprägten Stillleben, konnte sogar zwei oder drei verkaufen, bis er sich an den Strand wagte und allmählich seinen Stil, vor allem seine Verkaufsstrategie entwickelte, die ihm das Überleben sichert.
Erst bei der dritten Flasche wird Wolter los, was er auf dem Herzen hat: »Ich würde dir gern ein Bild abkaufen, Paul.«
»Jederzeit. Was soll’s denn sein?«
»Mein Schwiegervater wird in drei Wochen sechzig. Über seinem Sofa im guten Zimmer hängt ein alter Schinken. Schneebedeckte Gipfel im Hochgebirge. Passt nicht in die Landschaft und stört meine Frau schon lange. Sie möchte lieber was mit Meer und Strand oder so.«
»Kein Problem. Was stellst du dir denn vor? Sturmgepeitschte Wellen mit einem alten Segelschiff, einem Dampfer, einem Fischerboot?«
»Fischerboot wäre gut.«
»Wie heißt dein Schwiegervater?«
»Oswald Branzke.«
»Okay, dann taufe ich das Boot auf den Namen Oswald. Wird am Bug gut zu lesen sein. − Wie groß soll das Bild werden?«
»Mindestens so groß wie das alte, damit die dunkle Tapete nicht vorguckt. Etwa einsfünfzig mal sechzig, schätze ich. Die genauen Maße könnte ich dir morgen oder übermorgen geben.«
»Oh, ist ’ne ordentliche Fläche. Siebzig Mark reichen da nicht. Mal drei, würde ich denken. Ich kann dir auch was Besseres bieten als die Kleckserei für die Laufkundschaft. Im Stil der Impressionisten. Macht zwanzig Prozent Aufschlag.«
»Einverstanden«, sagt Wolter, obwohl er nicht weiß, wovon Paul redet.
»Willst du einen schönen Rahmen drum rum?«
»Unbedingt.«
»Okay, dann wären wir bei knapp dreihundert.«
»Oh«, lügt Wolter, »ich hab nur ein Budget von zweihundertfünfzig.«
»Es ist doch der sechzigste Geburtstag! − Aber gut, weil du es bist. In zwei Wochen kannst du das Bild abholen. Du musst nur noch sagen, was ich drunter schreiben soll. Kleine Auswahl: Paul See-Sanne, Paul Gohgäng, Peter Paul Ruh-Benz beziehungsweise Bräu-Gel, Paul Rotklee oder Weißklee.«
»Ich nehme gleich das erste. Aber ohne das Lateinische!«
»Nicht, dass ich dir misstraue − aber hundert Mark Anzahlung?«, fragt Pinsel-Paul.
Wolter kramt das Portemonnaie hervor.