Leseprobe „Nestbauer“

Nestbauer

oder

Aus alt mach neu!

 

Neulich lag ich mit meiner Frau im Bett und habe unsere Bundeskanzlerin zum Teufel gewünscht. Na, besser als umgekehrt …

Unsere nächtliche Ruhestätte ist seit Längerem der Platz, an dem wir unseren Gefühlen freien Lauf lassen. Den nostalgischen, wohlgemerkt. Das Glück des Alters: Man erinnert sich, wie es früher war. Und seufzt ein bisschen. – Schön!

Auch diesmal wieder ging es um lange Zurückliegendes, um Geschichten zur Erbauung und Mahnung, die wir natürlich viel lieber unseren Kindern und Enkeln erzählt hätten. Die jungen Leute wollen es allerdings nicht hören, machen einfach die Ohren zu. Sie könnten die ollen Stories schon singen, behaupten sie. Dass sie daraus Lehren gezogen hätten, haben wir jedoch nicht feststellen können.

Charlotte war wieder einmal in ihre Kindheit abgetaucht und hatte mich gefragt, ob mir das Motto »Aus alt mach neu!« noch etwas sage. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, worauf das Ganze hinauslaufen würde, deshalb stieg ich gerne darauf ein: Na klar, die Nachkriegsjahre!

Ich erinnerte mich an eine sogenannte Winterjoppe, die meine Mutter mir für den Schulweg aus einem alten Militärmantel geschneidert hatte, ein hässliches und gehasstes Stück. Um seine Herkunft zu verschleiern, war der Filz in einer Färberei (so etwas gab es damals noch) braun gefärbt worden – ausgerechnet braun, nicht gerade die angesagte Modefarbe nach zwölf braunen Jahren.

Unser Altgedächtnis förderte noch so manches zutage: Kochtöpfe und Trinkbecher, herausgesägt aus den Hülsen von Granaten, verbeulte Kochgeschirre als Essenträger, Fahrräder mit Vollgummireifen, zusammengestoppelt aus fahruntüchtigen Oldies, die von den Russen nicht requiriert worden waren.

Ob denn das Motto »Aus alt mach neu!« nur etwas für Notzeiten sei, begann meine Frau zu meditieren: »Könnte es nicht auch in der heutigen Zeit Gewinn bringen, im Sinne der Nachhaltigkeit und der effektiven Nutzung der Ressourcen?«

Charlotte liebt solche Sprüche, obwohl mir der Begriff Nachhaltigkeit wohl zuletzt einfiele, wenn ich in ihre Schuh- und Kleiderschränke gucke.

»Frag mal deine Enkel«, warf ich ein.

»Die können damit überhaupt nichts anfangen. Wie denn auch: aus alten Handys neue basteln?«

Aber im nichtmateriellen Bereich klappe es ganz gut, stellten wir fest. Schon zwei Mal haben wir es in Umbruchzeiten beobachten können: Nach dem Krieg wurden aus alten Nazis neue Demokraten, und nach der Wende mutierten gläubige Sozialisten ziemlich schnell zu veritablen Kapitalisten. Aus alt mach neu!

»Oder schau dir deine Freundin Regina an: Ist es nicht wunderbar, wie man aus einem verlebten Gesicht ein glatt gestrafftes Antlitz zaubern kann? Phantastisch, selbst wenn es Regina neuerdings beim Lächeln immer das linke Auge zuzieht.«

Offensichtlich passten die Beispiele meiner Frau nicht in den Kram, weshalb sie urplötzlich auf Martin Walser zu sprechen kam. Aus der Rückschau betrachtet: ein schlauer Schachzug. Niemals würde ich meiner Frau Heimtücke oder Hinterhältigkeit unterstellen, aber raffiniert eingefädelt war das Folgende schon.

Weil sie mich in letzter Zeit häufig beim Brüten über meinen Texten erwischt hat, fragte sie mich scheinbar arglos, ob ich gerne aussehen möchte wie Martin Walser.

»Was ist denn das für eine Frage?«, sagte ich überrascht. »Aber warum nicht – wenn man sich verbessern kann …«

»Sicher hättest du auch nichts dagegen, könntest du vom Wohnzimmer oder von deinem Schreibtisch auf den Bodensee blicken?«

»Besser als in die Röhre zu gucken.«

Schnell griff Charlotte nach einem Foto, das sie aus einer Zeitschrift herausgerissen hatte: »Und würdest du gerne wie Walser in so einem Esszimmer dinieren?«

Ich blickte auf eine entsetzliche Tapete.

»Nee, Gott bewahre«, stöhnte ich.

»Schrecklich, nicht wahr?«, sagte meine Frau. Sie war zufrieden mit mir und holte zum entscheidenden Schlag aus: »Und nun sieh dich mal bei uns um!«

Ich wusste sofort, dass ich in eine Falle getappt war. Kein Zweifel, sie wollte auf Renovierung hinaus! Kaum eine Arbeit, die mir verhasster wäre!

Und schon setzte sie nach: »Wir bekommen jetzt bald 1,1 Prozent mehr Rente; wenn wir das Geld vier Monate lang beiseitelegen, können wir uns davon einen Eimer Wandfarbe kaufen und …«

Das war der Moment, in dem ich die Rentenerhöhung und die Bundeskanzlerin nach Kräften verfluchte. Hat die Merkel auch nur eine Sekunde bedacht, was das für Folgen haben kann?!

Es sind immer die Frauen, die renovieren wollen. Das muss ihnen in den Genen liegen. Ein Verdacht drängte sich auf: Vordergründig geht es um neue Tapeten, unterschwellig aber womöglich um ein neues Leben. Wahrscheinlich soll nicht die Wohnung, sondern die Beziehung aufgefrischt werden. Als würde sich im Schlafzimmer etwas ändern, wären die Wände heller und die Betten fengshui-mäßig nach Osten ausgerichtet.

Vor einiger Zeit habe ich einen Film über Vogelmännchen gesehen, die sich mit ihren dünnen Beinchen den Wolf liefen, um ein besonders schnuckliges Nest zu bauen. Und warum? Weil sie nur mit einem Luxusambiente ein Weibchen in ihre Höhle locken konnten. Stellte eine Vogeldame Baumängel fest, flog sie auf und davon.

Das erinnerte mich an Patrick aus unserer Straße, der die Jessica erst rumkriegte, nachdem er überall Laminat verlegt und seine Küche mit Ceranfeld und Spülmaschine hochgerüstet hatte. Nachbar Joachim, immerhin schon acht Jahre geschieden, hat daraus nichts gelernt. Solange ich mit dem Fernstecher das Kommen und Gehen bei ihm beobachte, laufen ihm die Mädel dauernd wieder weg – er muss beträchtliche Baumängel haben.

Was mich bei dem Nestbauer-Film versöhnlich stimmte, war die absolute Chancengleichheit. Die um die Damen buhlenden Pieper mussten weder schön noch besonders muskulös sein, selbst Charakter, Abitur und Kontostand spielten keine Rolle. Entscheidend war einzig und allein das Ergebnis ihrer Hände Arbeit: das Eigenheim.

Das gefiel mir. Ein solcher Ritus würde meine Chancen auf dem Markt deutlich verbessern. Ich müsste im Wettstreit um Schönheit und Intelligenz nicht mehr gegen Typen wie Dieter Bohlen antreten. Die Konkurrenz wäre überschaubar, die wenigsten Männer sind Nestbauer. Oder gar Architekten.

Das Dumme ist nur: Ich bin nicht mehr auf dem Markt. Selbst wenn ich das fabelhafteste Nest zwischen Holly- und Bollywood baute – niemals würden Sophia Loren, Senta Berger oder Angela Merkel auf dem Ast sitzen und brünstig in mein Nest schielen. Garantiert zöge wieder meine Frau ein.

Womit ich erneut beim Status quo gelandet wäre. Warum also, fragte ich mich, sollte ich bei der Renovierung einen so lächerlichen Eifer an den Tag legen wie die komischen Vögel? Oder drastischer ausgedrückt: Wozu mir den Bürzel aufreißen, wenn alles bei der Alten bleibt?

Logische Antwort: Ich habe gebockt. Mich Charlottes Ansinnen verweigert! Und still vor mich hin gebrummt, was Anton in solchen Fällen zu singen pflegt: »Glücklich iiist, wer vergiiisst, was alles zu machen iiist.«

Ich bin sicher, dass ich das Nichtstun verdammt lange durchhalten kann. Walser hat es ja auch geschafft.

Zum Glück stehen wir alten Herren nicht mehr unter diesem enormen hormonellen Druck wie die armen Vogelmännchen.