Leseprobe „Entmannt“

Es geschieht wohl nicht oft, dass eine Frau beim Anblick ihres Mannes die Fassung verliert. Gar eine Ahnung bekommt, wie nah beieinander Liebe und Mordgelüste liegen.

Als Dorothea morgens in sein Zimmer schaut, das bislang Torsten gehörte, packt sie die Wut. Sie versucht das Gefühl zu unterdrücken, will es nicht zulassen. Vielleicht ist er ja wirklich krank.

Immer das gleiche Bild, den vierten Tag schon! Was für ein Schlappschwanz!, denkt sie. Will einfach nicht aufstehen.

Sie hat seine Sekretärin angerufen und ihn krank gemeldet. Aber er hat kein Fieber. Was soll sie tun?

Vorhänge auf, Fenster auf, Luft rein! Sie muss ihn wieder auf die Beine kriegen.

Ist das noch der Mann, den sie geliebt hat? Sie erinnert sich an den Herbst vor zwei Jahren. Da war er wirklich krank, gerade operiert. Trotzdem wollte er mit Macht raus aus dem Krankenzimmer. Nicht zusehen, sondern mittun wollte er, als sich alles änderte. Was hat er sich lustig gemacht über die alten Säcke im Berliner Politbüro, die ihren Chef weggeputscht hatten und glaubten, nach der Palastrevolte weiter führen zu können – vornweg ein neuer Oberindianer, der fatalerweise ein altbekannter war. Er stammte von der Küste, das war das Positivste, was man an der Ostsee über ihn hören konnte. Franken gab ihm keine Chance.

 

Und jetzt? Liegt er da wie ein Gespenst, mit offenen Augen, die niemanden sehen. Will nichts von der Welt hören. Wie kann man sich so hängen lassen? Nach der Arbeit findet sie ihn vor, wie sie ihn morgens verlassen hat. Nicht mal die Brote hat er gegessen. Der Bart sprießt, die Stoppeln morsen Notsignale, schreiben ihm Trostlosigkeit ins Gesicht. Hohle Wangen, die Nase noch spitzer als sonst. Kein Anblick, der sie an seine Seite zöge.

Fieber wäre prima, da wüsste sie, was zu tun ist. Aber bei ihm ist’s der Kopf. Wie soll man helfen, wenn einer nicht will?

»Karli«, sagt sie sanfter, als ihr zumute ist, »wollen wir nicht heute mal in den Garten fahren und nach Wolf schauen?«

Keine Antwort. Okay, war ’n blöder Vorschlag.

»Oder nach Warnemünde? Ein bisschen Seeluft um die Nase wird dir guttun.«

In seinem Gesicht keine Regung.

So geht das nicht! Montag muss er wieder auf Arbeit. Unbedingt. Was soll sie denn noch lügen! Ohne Krankenschein wird’s schwierig, und zum Arzt geht er nicht.

Sie muss es auf die harte Tour versuchen: »Du stehst jetzt auf, Karl Peter, sofort! Hörst du?«, schreit sie so laut, dass sie selbst erschrickt. »Auf der Stelle! Los, ab ins Bad! Wird’s bald? Unter die Dusche und rasieren! Sonst haue ich ab und lass dich hier verschimmeln.«

Tatsächlich, er erhebt sich! Würdigt sie keines Blickes, schleicht davon. Fügt sich wie ein beleidigtes Kind, sein Hinterkopf zeigt zur Zimmerdecke.

Sie verriegelt die Fenster, als könnte sie Ohrenzeugen in der Nachbarschaft noch nachträglich ausschließen, und geht in die Küche. Am Frühstückstischchen, das sie seinerzeit zwischen Herd, Spüle und Anrichte gezwängt haben, vergräbt sie ihr Gesicht in den Armen. Ist zu sauer, um zu heulen.

Sie versteht sich selbst nicht mehr. Was ist passiert, dass sie so grob werden kann?

Durch die Scheibengardine beobachtet sie ein Paar aus dem Block gegenüber, das Koffer und Taschen ins Auto stapelt. Es geht offenbar in den Urlaub, zum ersten Mal mit dem neuen Wagen, einem gebrauchten, nicht mit dem Trabant. Sie sind bester Laune, wie es scheint. Warum sind alle anderen so glücklich?

Liegt es an ihr? Was macht sie so gallig? Ist sie unzufrieden, weil unbefriedigt? Hat es mit seiner OP begonnen?

Nein, damals war er noch ein Kerl. Wollte partout nicht zur Kur. Das halbe Volk stand auf der Barrikade, der »Ostsee-Kurier« wurde mutig. Wer sich da in einem Sanatorium ablegen ließe, verliere den Anschluss, meinte er. Von Revolution sprach noch keiner – wer wären denn auch die Revolutionäre in Rostock gewesen? –, aber die Strukturen der Macht lösten sich auf. Dann fiel die Mauer, die Ereignisse überschlugen sich.

Es waren Stunden des Wahnsinns, nicht der Besinnung. Ihm blieb keine Zeit, sein Trauma zu verarbeiten, über sein künftiges Leben nachzudenken. Und Dorothea war nicht sensibel genug, die Verletzungen zu spüren, die er verdrängte.

Seine vermeintlichen Späße waren ein Aufschrei. Welche Duplizität der Ereignisse!, witzelte er, die stolze Partei verliert die Macht und der stolze Genosse Franken die Potenz. Beide zur gleichen Zeit entmannt. Er noch rabiater als seine Partei, bei der regte sich ja noch was.

Statt zu lachen, hätte sie ihn in die Arme nehmen sollen.

Ihr war auch nicht merkwürdig vorgekommen, wie viel Zeit er bei allem Wendetrubel für seine körperliche Konditionierung aufwendete. Hatte er bis dahin die gymnastische Kräftigung des Beckenbodens als typisch weiblichen Wunderglauben verhöhnt, absolvierte er nun einschlägige Übungen mit größter Ernsthaftigkeit. Die locker-ironischen Sprüche, die er dabei abließ, waren kaum geeignet, über seine Verbissenheit hinwegzutäuschen. Mit Windeln machst du auf der Barrikade keine gute Figur, meinte er, nasse Hosen knicken den Kampfeswillen.

Am Ende konnte er auf Erfolge verweisen. Er hatte zwei Dinge gleichzeitig gelernt: mit der neuen journalistischen Freiheit umzugehen und das Wasser zu halten. Letzteres hat länger gebraucht.

Geblieben ist das größte aller Übel, das auch durch eisernes Training nicht zu beheben ist. Noch immer will er es nicht wahrhaben. Hört er etwas von erektiler Dysfunktion, könnte er schreien. Mit Mitte vierzig, verdammt!

Eines Tages begann er von Injektionen in den Penis zu reden, von einer Vakuumpumpe und ähnlichen Prozeduren. Nein, entschied er schließlich, ein Trauerspiel im Schlafzimmer werde er nicht aufführen. Er fürchtete wohl, Dorothea würde sich bei den Zurichtungen zum Apparate-Koitus kaputtlachen. Oder schlimmer: sich aus Mitleid zu barmherzigem Sex herablassen.

Am Anfang hat er Vergessen in der Arbeit gesucht. Den Chef zu geben kann einiges kompensieren. Aber irgendwann kommt die Besinnung zurück, dann zieht ihn das Elend hinunter in ein tiefes Loch. Und ihm fehlt die Kraft, sich aus der finsteren Umklammerung zu lösen.

 

Plötzlich steht Karl Peter in der Tür, schaut seine Frau fragend an. Er hat sich die helle Leinenjacke übergezogen, zu warm für den sonnigen Tag. Seitdem er Chefredakteur ist, geht er selten ohne korrektes Sakko aus dem Haus.

Während der Fahrt mit der S-Bahn schaut er stumm aus dem Fenster. Das junge Mädchen ihnen gegenüber denkt wahrscheinlich, was Dorothea früher auch gedacht hat: Was muss das für ein Leben sein, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat?

In Warnemünde überqueren sie den Alten Strom, tauchen ein in das Urlaubergewimmel. Plötzlich spricht er mit klarer Stimme: »Ich könnte jetzt etwas essen.« Schlagartig steigt die Stimmung seiner Frau um mindestens eine Oktave, und sie bleibt auch oben, als sie im Restaurant erst auf einen freien Tisch und dann lange auf die überteuerte Scholle warten müssen.

Die Promenade zwischen Leuchtturm und Hotel »Neptun«, das bei ihnen immer noch Interhotel heißt, quillt über vor Menschen, auch das barfüßige Schlendern am Strand, das Dorothea sich vorgestellt hatte, verspricht alles andere als Einsamkeit. Sein Vorschlag, den ruhigeren Kurpark anzusteuern, leuchtet ihr ein. Er hat den Arm um ihre Schulter gelegt, zieht sie sanft an seine Seite. Sie genießt die vertraute Geste. Langsam und im gleichen Schritt spazieren sie im Schatten der Bäume.

Sie setzen sich auf eine Bank. Dorothea spürt, dass er wieder ansprechbar ist, greift nach seiner Hand und fragt, was sie die letzten Tage nicht zu fragen wagte: »Was bedrückt dich, Karli?«

»Ich zweifle an mir.«

»Das ist nie ein Fehler.«

»Bin fast am Verzweifeln.«

»Schon schlechter.«

Er redet über sich, es macht ihr Hoffnung.

»Ich bin der Chef, sagen sie, aber drücken mir neue Leute rein, ganz gleich, was ich davon halte. Sie misstrauen mir. Einmal Genosse, immer Genosse.«

Dorothea versteht: Sie − das sind die Hamburger.

»Jetzt ist sogar Kurt Holzapfel gegangen.«

»Nein! Der Kurt? Den du so bewundert hast?« Sie ist ehrlich entsetzt. Der galante ältere Herr hatte auch ihr immer Eindruck gemacht, wenn sie Karl Peter in der Redaktion besuchte. Er versäumte es nie, sich nach ihrer Arbeit zu erkundigen; er wusste ja, dass sie in ihrer Brigade für die Kultur zuständig war.

»Ich habe versucht, ihn zu halten. Als sie einen neuen Kulturchef schicken wollten und mich anwiesen, Kurt Holzapfel in die zweite Reihe zu versetzen, habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Aber sie hielten es nicht einmal für nötig, mich über die wahren Gründe der Ablösung aufzuklären. Mich, den angeblich eigenständigen Chefredakteur. Kurts Ansehen in der Redaktion wie bei Künstlern schien ihnen eher verdächtig zu sein, und was ich über seine Widerständigkeit zu DDR-Zeiten erzählte, disqualifizierten sie als belanglos …«

Er redet ohne Punkt und Komma, es bricht aus ihm heraus.

»Du erinnerst dich an das Burget …«

Dorothea nickt. Aber ihr Mann nimmt es nicht zur Kenntnis, lässt sich nicht aufhalten, tischt ihr die Geschichte noch einmal auf, in aller Ausführlichkeit: wie Holzapfel über das Burget gehöhnt und wie genüsslich er das Burget immer wieder zitiert hat. Für ihn stand fest: Nichts bezeichne die Redaktion besser als dieses Wort.

Es war in einem Kommentar aufgetaucht, der mit B. L. unterschrieben war. Die Abkürzung stand für Bezirksleitung, wurde aber von den Redakteuren mit Blödmann übersetzt, weil dahinter das Großmaul Rietschel steckte, der verhasste Sekretär für Agitation und Propaganda. Er fühlte sich berufen, den »Ostsee-Kurier« nicht nur ideologisch zu führen, sondern bei Gelegenheit auch mit kernigen Kommentaren zu beglücken. Keiner verstand seine Auslassungen, sie bezogen sich in der Regel auf kritische Anmerkungen in der Westpresse, also auf »Verunglimpfungen unseres Staates und seiner Repräsentanten«. Die Bürger des Ostseebezirks hatten davon in der Regel nichts gehört oder gelesen, und die Verunglimpfungen zu wiederholen vermied der Autor tunlichst. Stattdessen fuchtelte er mit verbalen Schwertern wild und sinnlos, aber erkennbar klassenkämpferisch in der Luft herum.

An Rietschels Elaboraten durfte nichts verändert werden, nicht mal ein Komma, obwohl die Schwäche des Autors in der Zeichensetzung offenkundig war. Aber Weisung war Weisung. Auch gewissenhafte Korrektoren legten bei B.-L.-Texten den Rotstift beiseite; die deutsche Willfährigkeit hebelte die deutsche Rechtschreibung aus.

Bis Rietschel den unvergesslichen Satz prägte: »Diese Erfolge sind ein Burget für die Leistungsbereitschaft unserer Werktätigen.« Niemand in der Chefredaktion zog den ungewohnten Begriff in Zweifel, er stammte ja von Rietschel. Burget? Oder »Bardshett«? Gar »Bürshé«? Keiner fragte nach. Wer wollte schon zugeben, nicht zu wissen, was ein Burget ist!

Am nächsten Tag wussten es alle: ein Druckfehler. Rietschel hatte in seinem Manuskript ein Wort gestrichen und per Hand durch ein neues, leider unleserliches ersetzt, das der Setzer als Burget entziffert hatte, wahrscheinlich aber Beleg, Beweis oder Beispiel heißen sollte. Die Prüfung des Originals ergab keine eindeutige Lesart; Burget war die unwahrscheinlichste. Seitdem brachte Holzapfel die Wörter Beweis oder Beispiel nicht mehr über die Lippen; er sagte immer Burget.

 

Es kommt Dorothea hilflos vor, wie ihr Mann seinen Kulturchef retten wollte. Sie kommentiert sein Vorgehen nicht, ist vielmehr froh, dass er sich endlich öffnet, sich seinen Kummer von der Seele redet. Der Versuch, Holzapfel den Hamburger Bossen als heimlichen Dissidenten zu präsentieren, konnte nichts bringen, zumal dessen Widerstand so gut versteckt war, dass ihn keiner bemerkte.

Schwerer noch als die Zurückweisung aus Hamburg muss es Franken getroffen haben, dass es Kurt Holzapfel selbst war, der ihm den finalen Punch versetzte. Die Idee, ihn in nahezu aussichtsloser Position zu bitten, ein paar Belege für seine Verweigerung in der DDR beizusteuern, war ja auch verwegen. Es müssten keine großen Sachen sein, hatte er Kurt nahegelegt, Akte der Widersetzlichkeit halt, kleine subversive Nadelstiche.

Holzapfels Antwort beschäftigt ihn noch immer, er zitiert sie mit ungläubigem Staunen: »Meinetwegen kannst du dich gerne rückwirkend zum Dissidenten machen – ich war keiner und will auch keiner gewesen sein.«

Schlagartig war klar, dass Frankens Wertschätzung für Holzapfel nicht in gleicher Weise erwidert wurde. Dorothea weiß nicht, ob er es nur fühlte oder so mutig war, diesen Gedanken zuzulassen.

Er beendet seinen Bericht mit einem Satz, der sie alarmiert: »Am liebsten würde ich den Bettel hinwerfen. Ich bin nicht zum Chefredakteur geboren. Ich kann das nicht.«

Sie steht auf, zieht ihn von der Bank, wortlos, legt ihre Arme um ihn, den Kopf auf seine Schulter. So verharren sie lange Minuten. Ihr ist, als schluchze er. Dann spürt sie, wie seine Finger leise ihre Halswirbel streicheln und langsam am Rückgrat hinunter- und wieder zurückgleiten, Wirbel für Wirbel. Eine fast vergessene Zärtlichkeit, sie kennt sie seit ihrer ersten Umarmung.

Damals war es leicht, ihn aufzubauen, ihm mit Worten Stärke und Selbstsicherheit zu geben. Heute ist sie nicht sicher, ob es richtig wäre, ihm Kraft einzureden, die er nicht hat.

»Ach, Karli, lass dich nicht niederdrücken, du schaffst das«, sagt sie und kommt sich schäbig dabei vor. Sie weiß, dass er schwach ist.

Und dennoch: Als sie nach Hause fahren, fühlt sie ein wenig von der alten, fast vergessenen Innigkeit. Aber wie lange kann das gutgehen: eine Ehe ohne Mann, ohne männlichen Mann?