Leseprobe „Wolf“

Die Klasse mault. Einige haben sie schon gesehen, die neue Seebrücke, andere pfeifen auf das zweihundert Meter lange Schmuckstück von Banswiek, sie möchten lieber nach Hause. Die Lehrerin stöhnt leise. Spaß macht es nicht gerade, die lustlose Truppe zur letzten Station des Wandertags zu dirigieren.

Kurz vor dem Strand werden sie aufgehalten. Ein mächtiger Kerl, bestimmt einsneunzig, baut sich vor den Schülern auf. Er trägt ein blau-weiß gestreiftes Fleischerhemd, eine weiße, abwaschbare Schürze aus Wachstuch und einen großen Teller vor sich her.

»Kostproben von meinen Goldbroilern − greift zu!«

Die Zehnjährigen lassen sich nicht lange bitten. Der Hähnchengrill ist neu, weder ihn noch seinen Betreiber hat Vera Branzke jemals in Banswiek gesehen, der Typ wäre ihr aufgefallen. Er reißt ein paar Witzchen und zwinkert ihr dabei zu, als könnte er sie mit seinem Gequassel genauso leicht einfangen wie die Kinder.

»Riecht gut, was?«, trötet er. »Und schmeckt super, stimmt’s?«

Das Nicken bestätigt ihm: Das Käuferpotenzial ist vorhanden.

»Kann ich nur Pommes mit Mayo bekommen?«, fragt der dicke Sebastian.

Die Lehrerin muss lächeln. Nur Pommes, das ist wohl nicht das Geschäft, das der Mann vom Grill im Sinn hat.

Er reißt seine blauen Augen auf und staunt: »Das Hähnchen ist euch zu teuer?«

Wieder nicken alle. Dem Potenzial fehlt die Kaufkraft. Am Ende des Klassenausflugs ist die Finanzlage trüb.

Nun muss er aufgeben, denkt die Lehrerin. Hat aber die Rechnung ohne den Hähnchenbrater gemacht. Wolf Wolter schüttelt eine neue Verkaufsstrategie aus dem Ärmel.

»Ich mach euch einen Vorschlag, der ist einmalig, der ist sensationell! Und der gilt nur heute und nur für euch, weil ihr so eine hübsche Lehrerin habt. Ist doch eure Lehrerin, oder?«

Will er ihr auf die Pelle rücken? Er grinst frech zu ihr herüber, wird dreister:

»Wie heißt sie denn?«

Brav plappern zwei, drei Mädchen ihren Namen aus. Sie hängen ihm am Munde.

»Gut, also wenn Fräulein Branzke – sie ist doch bestimmt eine gute Lehrerin? …«

Müssen die dummen Gören immer antworten?! Schon wie er das »Fräulein« in die Länge zieht, ist eine Unverschämtheit.

»Hab ich mir gedacht. Also wenn das Fräulein Branzke bei mir ein Hähnchen kauft, bekommen alle Schüler ihre Portion zum halben Preis! Halbes Hähnchen, halber Preis! Statt vier Mark bezahlt ihr nur zwei Mark, dazu gibt’s Pommes oder Weißbrot, soviel ihr wollt. Und wer sein Portemonnaie vergessen hat, für den legt eure tolle Lehrerin bestimmt gerne das Geld aus.«

Eine Frechheit! Er zwinkert ihr zu, als hätten sie den Coup verabredet. Die Schüler bedrängen ihre Lehrerin, sie muss wohl oder übel mitspielen. Als sie ihr Grillstück in Empfang nimmt, raunt er ihr zu, sie könne ihr Geld stecken lassen, das Hähnchen sei natürlich gratis, er verbuche das unter Werbungskosten.

Vera Branzke versteht nicht, wie er das macht: Selbst die Schüchternen unter ihren Zöglingen drängen sich um ihn. Er stopft ihnen die Mäuler mit seinem Gebrutzelten, und sie erzählen ihm alles, was er wissen will. Von welcher Schule sie kommen, welche Fächer »das Fräulein Branzke« unterrichtet, ob sie auch in Wildhain wohnt und wie der Stundenplan der Klasse aussieht, zum Beispiel morgen.

 

Am nächsten Tag − sie denkt, sie sieht nicht richtig − steht er tatsächlich vor ihrer Schule, pünktlich zum Unterrichtsschluss. Mit vorpommerscher Grandezza, linkisch und doch irgendwie charmant, überreicht er dem »Fräulein Branzke« eine langstielige rosa Rose. Er macht dazu nicht viele Worte, bedeutsame schon gar nicht. Er heiße Wolf, das bleibt ihr im Ohr ebenso wie seine Frage: ob sie mit ihm »mal was Richtiges essen« möchte, heute Abend um neunzehn Uhr im »Dünenkaten«?

Er wolle sie nicht nötigen, sie könne es sich in Ruhe überlegen, sagt er und verschwindet eilig in Richtung Banswiek.

Der hastige Aufbruch, den Vera Branzke seiner Verlegenheit zuschreibt, hat einen anderen Grund: Sein Grill wartet. Mit einem Pappschild »Bin gleich zurück!« hat er seinen Laden für eine knappe Stunde dicht gemacht und das gewöhnlich gute Geschäft am frühen Nachmittag für einen Abstecher geopfert, der ihm am Herzen lag.

Am Abend fährt Vera Branzke nach Banswiek. Nicht unbedingt wegen dieses überdimensionierten Brathähnchens, das sich kurioserweise Wolf nennt. Es ist der reine Trotz. Sie will den Wolf am Broilerspieß als Speerspitze gegen Jens Bullerjahn in Stellung bringen und setzt dabei auf die Geschwätzigkeit der Leute. Ihr Rendezvous im »Dünenkaten« wird sich mit Sicherheit bis zu Jens herumsprechen. Ihre Beziehung ist in der Krise, nun soll er sehen, dass sie auf ihn nicht angewiesen ist. Was Bullerjahn sich geleistet hat, kann sie allemal.

 

Wolter springt auf, als sie die Gaststätte betritt und suchend Ausschau hält. Er hat einen Tisch am Fenster geordert, eingedeckt für zwei Personen. War er so sicher, dass sie kommen würde? Vera überlegt, was sie falsch gemacht hat.

Sogar ein Aperitif wartet schon auf sie. Wolter hebt sein Glas: »Auf einen schönen Sonnenuntergang am Meer!«, sagt er. »Ich freue mich wie irre, dass du gekommen bist.« Ein Toast der besonderen Art. Das umstandslose Du irritiert sie. Er scheint nervös zu sein. Die Bestellung beim Kellner − sie haben sich auf Seehechtfilet und einen Weißwein geeinigt − wickelt er hastig ab wie eine lästige Störung.

Nicht Essen und Trinken steht auf seinem Programm, sondern Reden. Es passt zu ihm, und doch ist Vera verblüfft, dass er ohne lange Vorrede gleich zur Sache kommt. Wortreich, wie er sonst den Leuten Brathähnchen aufdrängt, verkauft er ihr seine Geschichte. Nur preist er sich nicht an, im Gegenteil. Er möchte, sagt er, dass sie das Risiko begreift, das mit ihm verbunden ist. Risiko? Mit ihm?

»Ich bin Analphabet, musst du wissen. Ja, wirklich. Legasthenie, kennst du bestimmt. Meinen Namen kann ich schreiben, das ist alles. Außerdem bin ich asozial. Hat mein Vater immer behauptet. Der war selber so was Ähnliches: ein schlimmer Alkoholiker. Als Kind hab ich mich furchtbar geschämt für ihn.«

Eitelkeit scheint ein Fremdwort für ihn zu sein, stellt Vera Branzke fest. Je weiter er sie in sein Leben hineinzieht, desto abenteuerlicher wird es. Er lässt buchstäblich nichts aus, was sie abschrecken könnte.

»Soll ich dir sagen, wie klein mein Vater mich gemacht hat?«, fragt er. »Du bist ein Versager, hat er gebrüllt, aus dir wird nie was! Und meine Klassenlehrerin tutete ins gleiche Horn: Du musst froh sein, Wolter, wenn sie dich später zum Straßenkehren nehmen oder zum Auspumpen der Jauchegruben. Eine Superpädagogin! − Vielleicht kannst du dir vorstellen, wie man sich da fühlt als kleiner Piepel.«

Vera Branzke kennt nicht viele Männer, ist sich aber sicher: Einen zu finden, der sich beim ersten Treffen als Versager präsentiert, gehört nicht zu den alltäglichen Erlebnissen einer Frau. Einen Kurs »Wie bewerbe ich mich richtig?« − Arbeitsämter allerorten bieten ihn an − hat er offenbar nicht absolviert.

Er redet und redet. Noch bevor der Hauptgang serviert wird, ist Vera im Bilde über seine chaotische Familie. Dann fragt er. Nach ihren Eltern, ihrem Bruder, ihrem Studium, ihrer Schulklasse. Streckenweise bleibt ihr kaum Zeit, Luft zu holen, er will alles von ihr wissen. Am meisten fürchtet sie, er könnte nachhaken, warum sie mit fünfundzwanzig noch ledig ist. Stattdessen bekennt er höchsten Respekt vor ihrem Beruf. »Wenigstens eine in der Familie, die ordentlich lesen und schreiben kann«, sagt er. Von welcher Familie redet er?

Ähnlich ungelenk geraten ihm andere Komplimente. Sie sind nicht kalkuliert, schon gar nicht gedrechselt, eher arglos, spontan, die in Worte gefasste Bewunderung eines großen Jungen. Es scheint, er kann sein Glück kaum fassen. Und ich bin die Ursache, denkt Vera.

Je mehr er erzählt – der Abend wird lang und länger –, desto sicherer ist Vera, dass er nicht der Versager ist, der zu sein er vorgibt. Immerhin hat er es zu einem Hähnchengrill gebracht. Ein paar Raten sind noch abzustottern, trotzdem spricht er schon von einem zweiten Fahrzeug. Er ist heiß, der Junge, brennt für sein Geschäft, raunt von ominösen Vorhaben, »ganz anderen Dingern«. Er möchte es allen zeigen, die ihm nichts zugetraut haben, das kann sie nachfühlen.

Als der Kellner die leeren Teller abräumt und Wolf noch zwei Schoppen Weißwein bestellt, wird ihr bewusst, dass sie den Seehecht zwar verspeist, aber nicht auf der Zunge gespürt hat. Zu sehr war sie damit beschäftigt, Wolfs Story zu verdauen.

Er hebt das Glas. »Ein guter Wein«, sagt er. »Er kribbelt im Bauch wie verrückt. Bei dir auch?«

Halt, mein Lieber, langsam!, denkt sie.

»Komm, lass uns ein bisschen an den Strand gehen!«

 

Vera wüsste nicht zu sagen, wann die Sache gekippt ist. Wann sie in Wolf mehr gesehen hat als ein Mittel zum Zweck. Bullerjahn auf die Palme zu bringen − das war bald vergessen.

Zuerst regte sich das Mitleid mit dem großen, vielfach verletzten Jungen. Manchmal hätte sie ihn in die Arme nehmen mögen, aber der Verstand beherrschte noch die Emotionen.

Nachhaltiger wirkte die Kraft, die sie in seinen Plänen wahrnahm, sein unbedingtes Wollen. Hier war einer, der Halt sucht, der seit der Wende zäh um seinen Platz kämpft und nun eine Mitstreiterin, eine Komplizin braucht für die verwegenen Coups, die ihm durch den Kopf geistern.

Durfte sie ihn zurückstoßen? Ihre Gedanken spielten verrückt. Sie spazierten am Strand, und sie überlegte, wie es wohl wäre, könnte Jens Bullerjahn sie sehen, Händchen in Händchen, besser: ihre Hand in der schraubstockartigen Pranke dieses Mannes. Er würde sich kaputtlachen. Stehst du neuerdings auf Masse?, würde er lästern. Und er hätte recht. Zehn Kilo müssten runter, mindestens.

Zugleich kamen ihr Omaweisheiten in den Sinn. Nicht Äußerlichkeiten, die inneren Werte sind es! Und einen schönen Mann hast du nie allein! Dass ihre Mutter bei solchen Sprüchen Adonis Bullerjahn im Auge hatte, konnte sie nur vermuten. Bei Jens musste sie immer »schön zurechtgemacht« sein, wollte sie neben ihm bestehen. An der Seite Wolfs wären solche Verrenkungen nicht nötig, da reichte allemal die ungeschminkte Natur.

Manchmal dauert es lange, bis Zutrauen zu einem Menschen wächst. Bei Wolf Wolter genügte ein Abend. Es waren nicht seine blauen Augen, nicht seine unbeholfenen Komplimente. Überrollt hat er sie mit seiner Aufrichtigkeit. Offen wie ein Buch auch dann, wenn er glaubte sich entschuldigen zu müssen. »Nimm es mir nicht übel, ich erzähle und erzähle«, sagte er, als sie auf dem Rückweg zum »Dünenkaten« waren. »Der Grund ist ganz einfach: Ich möchte, dass du mich verstehst. Ich bin kein Frauentyp, das weiß ich. Versteh mal, für mich ist das heute ein Traum, ich quatsche hier um mein Leben.«

Ihr wurde warm. Er redete um ein Leben mit ihr.