Leseprobe „Träumereien“

Beim Klettern am Fels abgestürzt bin ich zwei Mal. Knapp dem Tode entkommen. Es hat mich geschockt, aber nicht entmutigt.

Jetzt bin ich gestolpert. Es war ein Sturz ohne erkennbare Verletzungen, weder Schürfwunden noch blaue Flecke, nichts gebrochen. Hat trotzdem verdammt wehgetan. Schwer zu sagen, ob ich mich jemals davon erholen werde.

Ich bin gefallen, ja, herausgefallen aus meiner Welt. Zu einer Zeit, als ringsum Fanfaren zum Aufbruch bliesen und Zuversicht aufwuchs wie Unkraut. Wer redet da über Schmerzen?

Die Hände, die sich mir entgegenstreckten, konnten nicht helfen. Meine Kollegen haben Sätze gesagt wie: »Halt die Ohren steif, Alter!« Sie hatten Hoffnung. Für sich. Der Jubel vom 9. November lag noch über dem Land, die Schallwellen gedämpft durch aufkommenden Nebel.

Sie umarmten mich, wünschten mir Glück – und ich ihnen auch. Ich war überzeugt, sie würden es bald ebenso brauchen.

Entlassen wurde ich kurz vor Weihnachten. Drei Wochen später hätten wir meinen Fünfzigsten begossen. Mit fünf Kästen Radeberger, Minimum.

Mit einem stummen Nicken akzeptierte ich die Abfindung, drei Monatsgehälter immerhin, und ging. Vorbei an unserer Brigadewandzeitung, von der nur noch die rote Bespannung übrig war. Schon zu Beginn der Herbststürme hatte das Honecker-Bild eines Morgens zerschmettert am Boden gelegen. Ein Transparent hing noch, hoch oben über der Klimakammer, es war wohl übersehen worden. Auch ich hatte es bislang nicht wahrgenommen; es war das Schicksal der vielen Losungen überall, von niemandem beachtet zu werden.

Merkwürdig, dass die markigen Worte mir jetzt, Wochen nach ihrem Verfallsdatum, ins Auge stachen: »Unser Weg war, ist und bleibt richtig!«, höhnte es von oben auf mich herab.

In unserem Kombinat, das von Berlin aus geführt wurde, hatten nach dem Fall der Mauer neue Leute das Sagen. Wie es hieß, waren sie aus politischen Gründen ins hintere Glied geraten. Wir in Dresden wussten davon nichts, kannten sie nicht, fanden aber in Ordnung, dass unverbrauchte Köpfe für frischen Wind sorgen wollten. Ihre Referenz: Sie waren nicht in der Partei gewesen. Höchstens in einer der Blockparteien.

Eine ihrer ersten Weisungen haben wir zwar mit Gelächter quittiert, aber natürlich befolgt. Sie betraf den Briefverkehr. Untersagt wurde die Anrede »Liebe Genossinnen und Genossen!« (selbst unter Genossen, sofern es noch welche gab, nicht mehr statthaft); fortan sollte »Sehr geehrte Damen und Herren!« verwendet werden, und statt »Mit sozialistischem Gruß!« hatten wir freundlich zu grüßen oder »Hochachtungsvoll«.

Die Erneuerer zeigten sich entschlossen, den Betrieb zu trimmen, sie begannen ihn zu reinigen von belasteten, störenden und überflüssigen Kadern, davon gab es genug. Erklärtes Ziel: die volkseigene Maid ein wenig gefälliger herzurichten, das hieß zu verschlanken für den bürgerlichen Bräutigam, der aus dem Westen erwartet wurde.

Ihre Idee, auf Teile der Forschung im Dresdner Werk zu verzichten, durfte man kurzsichtig nennen, nicht nur weil es uns betraf. Wir haben nicht allzu viel geforscht, das stimmt. Aber immer gekämpft. Um höchste Produktivität zum Beispiel: Aus jedem Gramm Material, aus jeder Minute Arbeitszeit den höchsten Nutzeffekt! Um die Übererfüllung der Pläne haben wir gerungen und − als das nicht klappte − um das Aufholen der Planrückstände. Und natürlich um Weltspitzenerzeugnisse. Wir kannten weder die Welt noch deren Spitze, führten sie aber ständig im Munde. Immerhin ist Solides herausgekommen, Großes eher nicht. Aber unsere Elektromotoren waren nicht schlecht. Wurden in alle Welt verkauft.

Wir wollten weiter kämpfen. Ein Schreiben mit unseren Vorstellungen für die Zukunft hatten wir nach Berlin geschickt und »hochachtungsvoll« unterschrieben, aber das erhoffte Signal zum Neustart blieb aus.

Stattdessen nahm mich mein Abteilungsleiter beiseite. »Sei mir nicht böse, Martin«, sagte er. »Wir waren immer eine prima Truppe. Und jetzt das! Weißt du, wie hart das für mich ist?« Seine Leidensmiene verriet mir, was kommen würde, überrascht war ich nur, dass ihm mein Schicksal so naheging.

»Widerspruch ist zwecklos, haben sie erklärt und mir strikte Weisung erteilt. Was soll ich machen – irgendwo muss ich ja anfangen. Bei dir – klar, schlimm ist es für jeden, aber du fällst wenigstens nicht ins Bodenlose. Du hast dein Haus, musst keine Miete zahlen, und deine Isolde hat einen sicheren Job, das ist bei den meisten nicht so. Was meinst du? – O nee, mir ist ganz schlecht.«

Ich habe mich nicht lange gesträubt, wollte es dem armen Kerl nicht noch schwerer machen. Mein Chef war ein Schlappschwanz. Er hatte sich das leichteste Opfer ausgesucht, Martin Menne, den Mann, der noch nie die Hörner ausgefahren hat. Kein einziges Mal hat er mich im Kampfmodus erlebt, im Gegensatz zu anderen, die ihm bei jeder Kleinigkeit dumm gekommen waren. Sollte ich jetzt einen von denen rausdrängen? Ein Hauen und Stechen anzetteln wegen ein paar Wochen? Auflehnung liegt mir nicht.

Beim Zusammenpacken meiner Siebensachen fiel mir ein Zeitungsausschnitt in die Hände, den ich im Schubfach verwahrt hatte. In einem unbeobachteten Moment heftete ich die Verse dem Direktor an die Tür. Was konnte mir noch passieren?

Wie rasend schnell das Leben doch verfliegt!

Du blickst zurück, die Stimmung leicht gedämpft:

Nicht jeder, der gekämpft hat, hat gesiegt.

Nicht jeder, der gesiegt hat, hat gekämpft.

 

Ende Mai, nachdem unsere Brigade, nein, unser Team komplett abgewickelt war, haben wir uns noch einmal getroffen, zu einer Dampferfahrt nach Bad Schandau. Alle waren gekommen, die meisten mit Ehepartnern, wie es sich für ein sozialistisches Kollektiv gehörte. Und es ging entspannt zu, vergessen waren das Gerangel der letzten Wochen und der plötzlich ausgebrochene Diensteifer, der komisch gewirkt hatte bei einigen, die sich vordem durch angenehme Lässigkeit und ein maßvolles Arbeitstempo ausgezeichnet hatten.

Lediglich Karin hatte gefehlt. Meine Karin. Ob sie die Begegnung scheute, mich nicht sehen wollte mit Isolde am Arm? Frauen können mit unklaren Verhältnissen schlecht umgehen.

»Ich habe keine Familie, mich hält hier nichts«, hatte sie gesagt – und fort war sie. Als wäre ich nichts. Ab in den Westen, keine vier Wochen nach dem Fall der Mauer. Wollte sie mich zu einer Entscheidung zwingen? Von Zeit zu Zeit lässt sie mich telefonisch wissen, sie befände sich wohl. Sehr wohl sogar und in erreichbarer Ferne. Ich kann das Ausrufezeichen hören, das sie hinter solche Sätze hämmert.

Der Ausflug auf der Elbe würde unser letztes Treffen sein, das wussten alle. Unsere Wege hatten sich getrennt. Das Bedürfnis jedoch, sich auszutauschen, von Tipps zu profitieren, eventuell Beziehungen zu nutzen wie früher, es war uns in Fleisch und Blut übergegangen. Die Marktwirtschaft eröffnete neue Möglichkeiten, klar. Die meisten waren noch auf der Suche.

Einzig Hans-Jochen, der als LDPD-Mitglied von der FDP übernommen worden war, bewegte sich anscheinend sicher und selbstbewusst auf den Pfaden seiner neuen Partei und brachte den Begriff Freiheitlich-demokratische Grundordnung locker über die Zunge, als Insider benutzte er auch die Abkürzung FDGO, er war schon immer ein kleiner Wichtigtuer.

Dieter hatte ein Ingenieurbüro aufgemacht, er werkelte allein, konnte sich aber nach der Startphase eine Erweiterung vorstellen, was einige aufmerken ließ. Rolf war bei Siemens untergekommen, Bernd und Georg prahlten ein bisschen mit ihrer Anstellung im Westen, andere suchten noch nach einem Betrieb in Dresden, von dem sie erwarten konnten, dass er eine Zukunft haben würde.

Am meisten bewunderten wir Christian für den kühnen Schritt, auf sein Ingenieurdiplom zu pfeifen und zusammen mit seiner Frau ein Reisecenter zu eröffnen. Noch war die D-Mark nicht eingeführt, der Ansturm indes gewaltig. Die glänzenden Prospekte, die er mitgebracht hatte, gingen von Hand zu Hand, kaum einer außer mir hatte noch einen Blick für die Felsen der Sächsischen Schweiz, an denen unser Schaufelraddampfer vorbeistampfte. Selten habe ich Isolde so inbrünstig seufzen gehört: Venedig! Paris! Andalusien! Schau an, die Genossin Menne!, staunte ich. Von solchen Sehnsüchten hatte sie nie geredet.

Natürlich konnte auch ich der Standardfrage meiner Kollegen nicht entkommen: »Na, und du, Martin?« Ich druckste ein wenig herum: noch nicht entschieden, bin nicht der Schnellste, wisst ihr ja, ich wäge noch ab, Hast ist ein schlechter Ratgeber. Damit ließen sie sich abwimmeln, so kannten sie mich. Hochpeinlich wäre es gewesen, mit der Wahrheit herauszurücken. Selbst Isolde verkniff sich eine Andeutung. »Er lungert den ganzen Tag auf der Couch herum«, warf sie ein. Ich war ihr dankbar für diesen Satz.

Wie hätte ich in diesem Kreis offenbaren können, dass ich nach fünfundzwanzig Arbeitsjahren zu der Einsicht gelangt war, den falschen Beruf ergriffen zu haben? Dass ich in jungen Jahren nicht vom Diplomingenieur, sondern vom Dichter Martin Menne geträumt hatte? Zuzugeben, jetzt am Schreibtisch zu sitzen und über ein Buch nachzudenken – das wäre zu viel gewesen für die Kollegen, sie hätten sich an den Kopf gefasst: Komisch war er ja schon immer, der Martin, aber jetzt dreht er durch.

Ja, es hat mich überwältigt. Wie ein Zwang ist es über mich gekommen, das Schreiben, wie ein Fieberwahn. Hier sitze ich, ich kann nicht anders! Ich strebe nicht ins Rampenlicht, möchte mich nicht hervortun, das war nie meine Art. Aber diese Angst! Hinter dir: nicht viel, vor dir: noch weniger. Es wird die Spur von deinen Erdentagen wohl in Äonen untergeh’n. Scheiße, denkst du. Du weißt, dass du sterben wirst, jeder weiß das. Nur: Wenn die Zeit knapp wird … Muss da nicht noch was kommen, verdammt?

Als Junge hab ich in jeder freien Minute gelesen, Karl May vor allem, aber auch anderes. Mein Vater hatte mir ein Lessing-Lesebuch gekauft. Ein bisschen früh für mein Alter, ich verstand, wenn überhaupt, nur die Hälfte, immerhin dies: Gotthold Ephraim, 211 Jahre vor mir geboren und noch immer berühmt, fast wie Goethe und Schiller, das war die Oberklasse. Dort lag die Messlatte. – Entschuldigung, ein bisschen Größenwahn ist ja wohl normal in diesem Alter.

Ich besuchte nicht die Fürstenschule St. Afra, nur die Schiller-Schule in Wachwitz, aber was das Pastorensöhnchen aus Kamenz, Bezirk Dresden, geschafft hatte, müsste doch einem kernigen Arbeiterjungen aus Dresden allemal möglich sein. Arbeiterjungen standen hoch im Kurs, Arbeitermädchen natürlich auch, und ich wollte den Gedanken nicht abweisen, dass mit mir ein Vertreter der künftigen Elite heranwuchs. Fräulein Olbrich, die Klassenlehrerin, hatte schon mehrfach meine Aufsätze gelobt, Inhalt: eins, Ausdruck: eins, Rechtschreibung: eins.

Ich war in der neunten Klasse, als die Zeitung ein Gedicht von Martin Menne, 15 Jahre, abdruckte. Ein sauber gereimtes Frühlingsgedicht, in dem alles blühte, die Osterglocken wie das ganze Land, von Kap Arkona bis zum Fichtelberg, denn neben der wärmenden Sonne beförderten auch der Frieden, der Sozialismus und die große Sowjetunion das beglückende Sprießen. Ich hatte frühzeitig einen Nerv dafür, was bei den Zeitungsleuten ankam.

Natürlich war ich zu schüchtern, Dichter als Berufswunsch anzugeben. Es war ein stilles Sehnen, ein sehr stilles. Auch gegenüber meinen Eltern habe ich es verheimlicht. Offen zu bekennen, an die Seite von Lessing oder wenigstens erst mal von Johannes R. Becher und Max Zimmering treten zu wollen, schien mir vermessen. Zimmering hatte fast jede Woche ein Gedicht in der Zeitung, immer hochaktuell. Alles, was geschah, gerann ihm zu Versen. Das Leben – ein Gedicht.

Ich dagegen: still, blass, unscheinbar. Ach, was war das Jungchen bescheiden! Alle fanden meine Verklemmtheit rührend, sie kam jedenfalls besser rüber als vorlaute Selbstgewissheit. Hätte jemand meine verstiegenen Fantasien gekannt und in die Welt trompetet, ich glaube, ich wäre in der Hitze meiner Schamwellen verglüht.

Nach dem Abitur wagte ich nicht einmal, das Studienfach Germanistik zu belegen, es roch verdächtig nach schriftstellerischen Ambitionen. Das Ergebnis: Wie mein Vater es wünschte, habe ich was Technisches studiert. Das muss man sich vergegenwärtigen: Allein pubertäre Hemmungen bringen dich auf die falsche Bahn, für Jahrzehnte, wenn nicht für immer! Du unterdrückst deine geheimen Wünsche, folgst nicht deiner Bestimmung, sondern den Plänen der Alten. Sie übertragen ihre Träume auf dich. Haben keine Ahnung, was in dir vorgeht, aber glauben zu wissen, was das Beste für dich ist. So kann es gehen. Das Leben spielt mit uns. Es spielt uns mit.

Einmal auf der Schiene, gibt es kein Entrinnen, die Weichen sind gestellt, unaufhaltsam zieht es dich hinein in den großen Irrsinn, der sich Leben nennt, du hängst fest im Getriebe, das Rädchen Martin im großen Räderwerk, es dreht sich und dreht sich und dreht sich, muss sich drehen, denn du hast irgendwann Familie, bist in der Mühle, wirst gedreht, durchgedreht, am Ende ausgespuckt. Ja, ausgespuckt, so kam ich mir vor.

Es war die Nacht nach meinem fünfzigsten Geburtstag. Ich wurde wach, lange bevor der Wecker klingelte. Warum klingelte er überhaupt? Ich musste nicht mehr früh raus. Trübsinnig lag ich im Bett und sann über mein Scheitern nach.

Plötzlich regte sich der Trotz. Ich war ganz unten, sicherlich, aber das war nicht der Platz, der mir zukam. Ich durfte mich nicht hängenlassen, wollte wieder hoch. Die ominöse zweite Luft fiel mir ein, die ausgepumpten Radsportlern auf wundersame Weise die Berge hinaufhilft. Mit der zweiten Luft in ein zweites Leben, das wär’s, dachte ich.

Der alte Traum stieg auf wie eine Seifenblase. Sie platzte nicht, nein, sie schillerte und glitzerte und flog langsam, aber unaufhaltsam in den Himmel. Ihr flirrender Glanz brachte etwas Helles in mein Dasein, beleuchtete eine Spur. Unverhofft sah ich einen Weg vor mir: Schreiben! Jetzt oder nie!

Ich fantasierte mich in höhere Sphären. Sie umhüllten mich wohlig, nahmen mir die Erdenschwere, hoben mich auf ins Elysische. Selig sank ich zurück in den Schlaf, ohne den Übergang zu bemerken.

Der Wecker riss mich brutal aus allen Träumen. Ich drehte mich auf die andere Seite, wollte noch nichts wissen von der Welt. Doch unweigerlich kroch mir in den Schädel, was mich erwartete. Der öde Alltag begann zu rumoren. Isolde in der Küche. Ich hatte das Bild vor Augen, wie sie in Pantoffeln und Morgenmantel zur Kaffeemaschine schlurfte. Ekelhaft laut, das Gerät.

Noch schlimmer dann die Stille beim Frühstück. Das Kauen, das Schlürfen, ab und zu klirrte ein Löffel in der Tasse. Ich nahm sie kaum wahr, die sorgende Gemahlin, bemerkte nur den Kaffeefleck auf ihrem Nachthemd.

»Kalt geworden draußen.«

»Und windig. Richtig eklig.«

Wer steht da gerne auf? Du fragst dich: Ist das dein Leben, geht das so weiter bis ans Ende deiner Tage?

Die meisten erwischt die Krise früher, mich traf es ziemlich spät. Ich war schon immer etwas langsam.

Den Jammer schreibend zu dimmen schien mir ein Ausweg.

Geschubst haben mich auch ein paar äußere Faktoren. Wir hatten gerade eine Revolution gehabt. Das hebt. Wir sind das Volk! Unvergesslich. Man hat uns dafür gefeiert. Vor allem für das Friedliche. Demos nur nach Feierabend. Vorbildlich. Gewalt mag keine Regierung leiden. Friedliche Revolution, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Auf einmal hielt sich jeder gewöhnliche Arsch für außergewöhnlich. Lauter Helden. Ich auch ein bisschen. Obwohl ich nicht so beteiligt war. Ich meine: aktiv beteiligt. Gedanklich schon.

Auf jeden Fall steckst du dir den Siegeslorbeer ans Revers und denkst: Ab sofort wirst du ein anderer sein! Du lässt dich niemals mehr kommandieren, von nichts und niemandem! Das war die Lehre. Alles fängt von vorn an, alles muss auf den Prüfstand, alles.

Ich will, nein, ich muss darüber schreiben. Mich auf dem Papier herantasten an mich selbst, meine Lebensgeschichte festhalten. Es geht um die Spur von meinen Erdentagen.

Als Isolde davon Wind bekam, reagierte sie überspannt wie immer. Halb tot hat sie sich gelacht. »Eine Autobiografie?« Ihr schriller Aufschrei klingt mir noch in den Ohren. »Eine Autobiografie! Selbst ein lumpiger Lebenslauf setzt ja wohl voraus, dass man lebt!« Ha, ha, ha.

Man sieht es ihr nicht an: Hinter der netten Fassade müssen sich Kavernen verbergen, die sich im Laufe der Jahre mit Gift und Galle gefüllt haben. Parallel dazu begann sich bei mir unter der Oberfläche das Magma zu stauen. Ich war ein schlummernder Vulkan. Sie hat es nie gespürt, dieses Brodeln in meinem Inneren, mit Mühe bezähmt von einem starken Willen.

Was ich nicht erwartet hatte: wie schwer mir das Schreiben fallen würde. Zeitweise bereitet es mir geradezu Qualen. Das Erinnern bedeutet ja auch ein Abtauchen in Untiefen. Ich hatte gedacht, ich könnte die glühende Masse kontrolliert ans Licht bringen, aber es fließt nicht. Die meisten Seiten habe ich dem Papierkorb übergeben. Zu flach gegraben, nicht zum Kern vorgestoßen.

Über Wochen versiegte die Tinte ganz und gar – und mit ihr der Lebensmut. Apathisch lag ich in meiner schwarzen Höhle, unfähig, den Griffel zu halten, geschweige denn einen vernünftigen Satz zu Papier zu bringen. Langsam komme ich raus aus dem Loch, mühe mich ab, weiß aber immer noch nicht, wie ich meine Geschichte angehen soll.

Am besten gar nicht.

Wie? Was? Hat da einer was gesagt? Träume ich? Wer spricht da?

Unwichtig. Ein Wohlmeinender.

Ich kann dich nicht sehen.

Du musst mich nicht sehen, nur auf mich hören.

Wer bist du?

Das dritte Auge.

Polyphem?

Der einäugige Zwerg? Auch sehr schön. Nein, nenn mich einfach Hannibal.

Oh, Hannibal! Womöglich Hannibal Lecter? Mensch, das wär’s doch: Lektor Hannibal − ein Verrückter!

Vom Ressort Betreutes Schreiben.

Bezahlt von der Pflegeversicherung?

Nee, ehrenamtlich. Zuständig für die schweren Fälle: Jungautoren ab 50 aufwärts.

Das kann keiner bezahlen.

So ist es.

Und wieso soll ich nicht anfangen, Hanni? Ich darf dich doch Hanni nennen?

Lass dein Magma stecken! Eine Eruption kurz vor der Rente, was soll das?

Dieses Jahr 1990 ist mein Schicksalsjahr, ich fühle es. Werde ich neu ins Leben starten – oder muss ich es zu Ende bringen?

Ist das eine Frage?

Ich habe mich noch nicht entschieden.

Spiel mir kein Drama vor! Du bist nicht der Typ, der freiwillig von der Bühne abtritt. Du bist wie alle.

Was soll das heißen?

Die Leute unterschätzen dich, stimmt’s? Du willst es ihnen zeigen, hab ich recht?

Unsinn!

Du möchtest etwas hinterlassen. Ein Buch, das dich vor dem Vergessen bewahrt.

Quatsch.

Wozu hast du dich an die Schreibmaschine gesetzt?

Es ist nur für meine Kinder …

So lügen sie alle.

Ich möchte meinem Leben …

… im Nachhinein einen Sinn geben? Vergiss es! Interessiert keine Sau.

Jedes Leben ist einmalig, heißt es. Ist unwiederholbar.

Ja, eben: unwiederholbar. Pech gehabt, mein Lieber.

Wir haben in der Schule auswendig gelernt, hör zu, ich zitiere: Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben; es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben, und nutzen soll er es so, dass er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Erhabensten auf der Welt, dem Kampf um die Befreiung der Menschheit, gewidmet.

Du wolltest die Menschheit befreien?

Na ja, die Menschheit …

Das Wertvollste, was du besitzt, hingeben für ideologischen Schmonzes?

Du gehst mir auf die Nerven! Ich werde mir mein Leben von dir nicht kaputtreden lassen.

Recht so! Das schaffst du alleine.

Was willst du? Bist du ein Geist?

Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will …

Sozialist?

… und stets das Gute schafft.

Sozialist also nicht. – Was dann, Hannibal?

Du wirst es sehen. Fang endlich an! Deinen Text, bitte, ich bin gespannt.